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Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Titel: Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Autoren: Michael Dissieux
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nur sehr wenig Angst verspürt, auch wenn sie erst zehn Jahre alt und damit drei Jahre jünger als er selbst war. Doch ihre bloße Nähe und Wärme hatten ausgereicht, sich auf absurde Weise sicher zu fühlen. Sie war ein Überbleibsel der alten Welt gewesen, eine letzte Erinnerung an ein Leben, das weit hinter ihm zurückzuliegen schien. Der Gedanke, dass ihnen beiden inmitten ihrer kleinen Burg nichts zustoßen konnte, tröstete ihn in der Dunkelheit, wie die Arme einer liebenden Mutter. Und genau diese Empfindungen hatte er versucht, an sie weiterzugeben, um auch ihr die Furcht vor der Nacht zu nehmen.
Doch seit vier Tagen und Nächten war Mary Jane fort.
II
Sie waren zu spät unterwegs gewesen. In den zwei Wochen davor, seit ›nichts mehr so ist, wie es einmal war‹, wie es Mary Jane stets umschrieb, hatten sie sich nie sehr weit von der Schule entfernt. Zu Essen fanden sie ausreichend in der Schulkantine, und den Rest der Zeit verbrachten sie in ihrem kleinen Versteck auf der Matratze. Daryll las dem Mädchen aus alten Schulbüchern vor. Und auch wenn er genau wusste, dass Mary die Hälfte von dem, was sie zu hören bekam, nicht verstand, so machte es ihn doch glücklich, zu sehen, wie sie mit verträumten Augen zur Decke schaute und mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht seiner Stimme lauschte.
In seiner Vorstellung wollte er mit seinen Worten eine eigene kleine Phantasiewelt für Mary Jane erschaffen, zu deren Pforte nur sie beide einen Schlüssel besaßen.
Die Tage hatten sie mit Essen verbracht, wobei es Mary gewesen war, die aus den in der Kantine gefundenen Resten die abenteuerlichsten Kreationen zauberte. Nicht alles verdiente wirklich den Namen ›Geschmack‹, doch sie hatten beide ihren Spaß daran und waren abgelenkt von dem, was sie umgab, und in ihrer eigenen Welt versunken.
Irgendwann waren die Bücher aus den Schulräumen aufgebraucht. Und da er sie wirklich ins Herz geschlossen hatte und sie das Einzige war, das ihm auf dieser Welt noch etwas bedeutete, entschlossen sie sich, zu ›Tenberries‹ zu fahren, dem einstigen Supermarkt von Devon. Dort gab es neue Bücher, die Daryll würde vorlesen können. Außerdem Lebensmittel in rauen Mengen, mit denen sie noch mehr experimentieren konnten.
Vor vier Tagen waren sie mit ihren Fahrrädern losgefahren, sorglos und unachtsam, aufgrund der schönen Zeit, die sie miteinander verbracht hatten. Und vielleicht auch ein wenig verliebt …
Bewaffnet war er mit einer Magnum, die Daryll aus dem Haus seines Vaters geholt hatte, lange nachdem seine Eltern von dort verschwunden waren. Das Haus war ihm fremd erschienen, die Vergangenheit aus den einstmals vertrauten Räumen einfach herausgewaschen, als hätte er niemals dort gelebt. Mary Jane trug ein langes Küchenmesser aus der Kantine an ihrem Gürtel.
Rückblickend verfluchte Daryll den unbedachten Jungen, der – ohne sich der Gefahren dieser neuen Welt bewusst zu sein – zusammen mit einem schutzlosen Mädchen die relative Sicherheit ihres Domizils verlassen hatte. Sie waren auf ihren Fahrrädern durch die Straßen der Stadt gefahren, ohne sich der Zerstörung zahlreicher Häuser und der unnatürlichen Stille bewusst zu werden. Es war ein sonniger Tag gewesen, auch wenn dieser Eindruck lediglich darin bestand, dass sich der triste Himmel in einem helleren Grau darbot, als an anderen Tagen. Der Wind, der ihnen heulend um die Ohren wehte und ihre Haare auf den Fahrrädern flattern ließ, schien wärmer zu sein. Für wenige Minuten hatten sie ihr altes Leben wieder zurück.
Sie waren zwei völlig normale Kinder, die ungehemmt und mit der kindlichen Freude von Freiheit über den Asphalt jagten und zum ersten Mal seit Tagen wieder lachen konnten. Es tat gut, Mary Jane so glücklich zu sehen. In den Tagen zuvor glaubte er eine Veränderung an ihrem Wesen festgestellt zu haben. Sie schien ruhiger und nachdenklicher zu werden, saß oft reglos da und starrte an einen bestimmten Punkt an der Wand. An was sie dabei dachte, wollte sie ihm nicht verraten. Wenn er sie danach fragte, schüttelte sie nur den Kopf und sah ihn mit diesem glanzlosen Blick an, den Daryll mit der Zeit als unheimlich empfand. Deshalb fragte er sie auch nicht mehr nach ihren Gedanken.
In Wirklichkeit wusste er natürlich ganz genau, woran Mary dachte. An die gleichen Dinge wie er selbst, wenn er in den Nächten wach lag und dem Heulen der Kreaturen in der Stadt lauschte.
Als sie wie der Wind zu ›Tenberries‹ rasten, verwandelte sich Mary
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