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Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Titel: Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Autoren: Michael Dissieux
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Jane wieder in das sorglose Mädchen, das sie vor der Katastrophe gewesen war. Sie lachte und quiekte und versuchte unter Aufbietung all ihrer Kräfte, mit dem größeren Fahrrad von Daryll mitzuhalten. Ihre Haare flogen im Wind und schienen ein eigenes, wildes Leben zu besitzen. Daryll hörte ein Rauschen in den Ohren, das ihn an die Brandung des Meeres erinnerte, an dem er vor einigen Jahren zusammen mit seinen Eltern und seinem Onkel die Ferien verbracht hatte. Es war ein völlig neues Geräusch in dieser stillen Stadt, und Daryll genoss jede einzelne Sekunde davon.
Als sie an einem Spielplatz vorbeikamen, hielt Mary Jane an und starrte über die alte, steinerne Mauer zu den vergessenen Geräten hinüber. Daryll hielt neben ihr an und folgte ihrem Blick. In den Schatten mehrerer weit ausladender Weiden kauerten eine Schaukel, eine Rutschbahn und mehrere Pferde und Löwen aus Stahl. Der Sandkasten wirkte wie ein frisch ausgehobenes Grab.
Der Platz machte einen friedlichen Eindruck. Gleichzeitig war es der einsamste Ort, den Daryll bisher gesehen hatte. Die Schaukel schwang im Wind sanft vor und zurück. Blätter tanzten dort, wo noch vor wenigen Wochen Kinder ihre Sandburgen bauten. Daryll bezweifelte, dass der Spielplatz die Kinder und Mütter vermisste. Er wirkte eher wie ein lustiger, bunter Friedhof, der endlich in seiner verdienten Ruhe dalag.
Mary Jane suchte Darylls Blick. Ihre Wangen waren vom Fahrtwind gerötet, ihre kleine Brust hob und senkte sich in erschöpften Atemzügen. Doch ihre Augen widersprachen der Freiheit und der Freude eines kleinen Mädchens. Sie wirkten dunkel und traurig. Daryll glaubte Tränen in ihnen schimmern zu sehen. Ohne ein Wort zu sagen, stieg Mary Jane wieder auf ihr Fahrrad und trat so kräftig in die Pedale, dass er Mühe hatte, seine Freundin wieder einzuholen.
Beide warfen keinen Blick zurück. Sie verwandelten sich wieder in die unbedarften Kinder, die sie beide einmal waren. Daryll ließ sich Mary zuliebe so weit zurückfallen, dass sie den Parkplatz des Supermarktes gleichzeitig erreichten.
Dort veränderte sich ihre Stimmung schlagartig. Kaum dass sie von ihren Fahrrädern abgestiegen waren, stürzte die Stille der Stadt wie eine Furie von allen Seiten auf sie zu und raubte ihnen fast die Luft zum Atmen.
Sie standen mitten auf den Platz und blickten sich nach allen Seiten um. Die Fenster der Häuser wirkten wie die erloschenen Augen von Toten. Manchmal konnten sie graue Gardinen im Wind flattern sehen. Irgendwo in der Ferne war das rhythmische Schlagen eines Stahlseils gegen einen Fahnenmast zu hören. Der Rest war Schweigen und Tod. Nichts rührte sich mehr in Devon.
Daryll wurde an die alten Kulissen von Horrorfilmen erinnert, die er sich so gerne heimlich im Spielfilmkanal um Mitternacht angesehen hatte. Die wenigen Vögel, die er über den Dächern wie dunkle Punkte im grauen Himmel fliegen sehen konnte, waren alles, was ihn an die alte Welt erinnerte. Erst jetzt, der Sicherheit der Schule beraubt, wurde ihm das ganze Ausmaß dessen bewusst, was über die Erde gekommen war.
Im Klassenzimmer waren seine Grenzen auf einen kleinen Raum beschränkt. Den Gedanken, dass sich auch die Welt da draußen verändert hatte, wollte er nie zulassen. Vielleicht war es auch nur der natürliche Instinkt des Selbstschutzes, der ihn davor bewahrte, darüber nachzudenken, was mit dem Rest der Welt geschehen war.
Jetzt mitten auf einem verwaisten Parkplatz zu stehen und die vertrauten Häuser plötzlich mit anderen Augen sehen zu müssen, traf ihn wie eine Woge eiskalten Wassers. Alles erschien ihm fremd und verzerrt, als würden sich viel zu große Gedanken in seinem Kopf drehen und die Sicht der Dinge verbleichen lassen.
Er blickte auf die Straße zurück, an deren Ende das Schulgebäude wie ein finsterer Schatten aufragte. Doch selbst der Weg, über den sie gerade noch lachend mit ihren Fahrrädern dahin geflogen waren, schien vor seinen Augen zu verschwimmen, als würde der Asphalt in sengender Hitze flimmern.
Er sah zu Mary Jane, die ihn mit großen Augen anstarrte. Noch nie hatte er eine solch große Angst im Blick des Mädchens gesehen, doch ihm wollten nicht die richtigen Worte einfallen, um sie zu trösten. Dafür war seine Furcht selbst zu groß.
»Komm, lass uns schnell in den Laden gehen und dann wieder verschwinden.«
Sie schoben ihre Fahrräder zur Seitenwand des Supermarktes und lehnten sie dort gegen die Stahlkonstruktion eines kleinen Vordachs.
Daryll blickte sich noch
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