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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron
Autoren: Tad Williams
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Vorwort

    as Buch des wahnsinnigen Priesters Nisses, so sagen jene, die es in Händen gehalten haben, ist sehr groß und so schwer wie ein kleines Kind. Man entdeckte es neben seinem Leichnam, der mit lächelndem Gesicht unter dem Turmfenster lag, aus dem vor wenigen Augenblicken sein Gebieter, König Hjeldin, in den Tod gesprungen war.
    Die rostbraune Tinte, gebraut aus Lammsblatt, Nieswurz und Raute – und aus einer noch röteren, dunkleren Flüssigkeit –, ist trocken und flockt leicht von den dünnen Seiten. Der Einband wurde aus der unverzierten Haut eines haarlosen Tieres von unbekannter Gattung gefertigt.
    Diejenigen der heiligen Männer von Nabban, die es nach Nisses’ Dahinscheiden lasen, erklärten es für ketzerisch und gefährlich, aber aus irgendeinem Grund verbrannten sie es nicht, wie es üblicherweise mit solchen Schriften geschieht. Stattdessen ruhte es viele Jahre in den schier unendlichen Archiven der Mutter Kirche, in den tiefsten, geheimsten Gewölben der Sancellanischen Ädonitis. Nun aber scheint es aus der Onyxschatulle, in der es bewahrt wurde, verschwunden zu sein, und der recht verschwiegene Orden der Archive gibt über den jetzigen Verbleib nur unbestimmte Auskünfte.
    Einige Leser von Nisses’ ketzerischem Werk behaupten, dass alle Geheimnisse Osten Ards darin enthalten seien, von der düsteren Vergangenheit dieses Landes bis zu den Schatten der Dinge im Schoß der Zukunft. Die ädonitischen Revisoren sagen nur, der Inhalt sei ›unheilig‹.
    In der Tat mag es stimmen, dass Nisses’ Schriften das Kommende so deutlich – und man darf annehmen: auf so verschrobene Weise –voraussagen, wie sie das Gewesene aufgezeichnet haben. Man weiß jedoch nicht, ob die großen Taten unseres Zeitalters – vor allem der Aufstieg und Triumph von Johan dem Priester – Teil der Aufzeichnungen Nisses’ sind; gewisse Andeutungen sprechen jedoch dafür. Vieles von dem, was er schreibt, ist geheimnisvoll und verbirgt seinen Sinn in seltsamen Reimen und dunklen Anspielungen. Ich habe niemals das ganze Werk gelesen, und die meisten von denen, die es getan haben, sind schon lange tot.
    Das Buch trägt, in den kalten, harten Runen von Nisses’ Geburtsstätte hoch im Norden, den Titel DU SVARDENV YRD, was so viel heißt wie Das Verhängnis der Schwerter …«
    Aus Leben und Regierung König Johan Presbyters von Morgenes Ercestres

Erster Teil Simon Mondkalb

1
Grashüpfer und König

    n diesem Tag aller Tage rührte sich etwas Fremdartiges tief im dämmernden Herzen des Hochhorstes, im verwirrenden Kaninchenbau der Burg mit ihren stillen Gängen und von Efeu überwucherten Höfen, in den Mönchszellen und den feuchten, schattendunklen Kammern. Höflinge und Dienerschaft, sie alle rissen die Augen auf und flüsterten, Küchenjungen tauschten über den Waschwannen bedeutungsvolle Blicke. In allen Gängen und Torhöfen der gewaltigen Feste schienen sich Menschen mit gedämpfter Stimme zu unterhalten.
    Der allgemeinen Stimmung atemloser Erwartung nach hätte es der erste Frühlingstag sein können, aber der große Kalender in Doktor Morgenes’ vollgestopftem Zimmer zeigte etwas anderes: Man befand sich erst im Monat Novander. Der Herbst hielt die Tür auf, und langsam zog der Winter ein.
    Was diesen Tag von allen anderen unterschied, war nicht die Jahreszeit, sondern ein Ort: der Thronsaal auf dem Hochhorst. Drei lange Jahre waren seine Pforten auf Befehl des Königs geschlossen gewesen, die bunten Fenster von schweren Vorhängen verhüllt. Nicht einmal die mit der Hausreinigung betraute Dienerschaft hatte die Schwelle übertreten dürfen, was der Obersten Kammerfrau unendliche Qualen bereitet hatte. Drei Sommer und drei Winter war der Saal ungestört geblieben. Jetzt war hier wieder Leben eingekehrt, und die ganze Burg summte von Gerüchten.
    Doch gab es einen Menschen im geschäftigen Hochhorst, einen zumindest, der nicht seine ganze Aufmerksamkeit auf jenen lange unbewohnten Raum gerichtet hatte, eine Biene im murmelnden Stock,deren einsames Lied nicht zur Tonart des allgemeinen Gesumms passte. Dieser eine hockte im Herzen des Heckengartens in einer Nische zwischen dem stumpfroten Stein der Kapelle und der Flanke eines zum Skelett entlaubten Heckenlöwen und glaubte, niemand werde ihn vermissen. Der Tag war bisher recht unerfreulich verlaufen. Die Frauen steckten alle mitten in ihrer Arbeit und hatten wenig Zeit, Fragen zu beantworten, es hatte zu spät Frühstück gegeben, und kalt war es. Wie
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