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Achsenbruch

Achsenbruch

Titel: Achsenbruch
Autoren: Reinhard Junge
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Montag
    1
    Wie der Wagen dorthin gekommen war, wusste im Nachhinein niemand. Aber als der Morgen dämmerte, stand er plötzlich im Wendehammer am Ende des Charlottenwegs. Keine zwei Meter von der Garageneinfahrt entfernt geparkt, verdeckte er für Besucher die Sicht auf den gepflasterten Weg zur Haustür – und für die Bewohner verschandelte er den Ausblick auf die idyllischen Pferdekoppeln, die von dichten Baumreihen begrenzt wurden.
    Auf dem kleinen Hügel rechts erhob sich hinter den Pappeln ein klotziges Mietshaus, das schon zur Nachbarstraße gehörte, und links dämmte der Grünstreifen den Lärm der nahen Königsallee, auf der schon der Berufsverkehr eingesetzt hatte.
    »Was ist das für eine Kiste?«, fragte Irmhild Sonnenschein mit einem Nicken in Richtung Fenster, als sie in die Küche trat.
    Ihr Lebensgefährte, der gerade den Kaffee eingoss, zog die Schultern hoch. »Stand schon da, als ich die Rollläden hochgezogen habe.«
    Während die kleine Frau im Stehen ein wenig von der heißen Brühe abtrank, schielte sie über den Rand der Tasse zu dem blauen Kleinlaster hinaus. Auf der verschrammten Seitenwand stand die verblasste Reklameschrift eines Malerbetriebs, dessen Namen sie noch nie gehört hatte. Führerhaus und Ladefläche waren leer.
    »Hast du Anstreicher bestellt?«, wollte sie wissen.
    Der Mann schüttelte den Kopf: »Wir haben uns ja noch nicht mal auf eine Farbe geeinigt …«
    Sie stellte die Tasse ab, küsste ihren Gatten kurz auf den Mund und trat in den Korridor, um eine ihrer gediegenen Kostümjacken überzustreifen und sich den Aktenkoffer zu greifen. Dann steckte sie noch einmal ihre leicht ergrauten Locken durch die Tür: »Sorgst du dafür, dass dieses Monster verschwindet? Da ist nicht mal ein Nummernschild dran.«
    Kennzeichen heißt das, dachte er.
    »Vielleicht kannst du den Abschleppdienst noch anrufen, bevor du zum Zahnarzt fährst. Ich muss jetzt leider los. Aber mach dir keinen Stress. Reicht ja schon, dass du gleich eine Sitzung beim Doc hast, du Armer.«
    Seine Wurzelbehandlung – unangenehme Sache, an die er nur ungern erinnert wurde. Er blickte auf die große Bahnhofsuhr an der Küchenwand und nickte. Ihm blieb noch genug Zeit bis zu seinem Termin. »Ich kümmere mich darum.«
    Eine Minute später erschien Irmhild Sonnenscheins Dienstwagen im Wendehammer. Sie winkte noch einmal, setzte sich nach vorne zum Fahrer in den Benz und entschwand seinen Blicken.
    Beißner aß in aller Ruhe seine Käseschnitte auf, putzte die gleichmäßigen Reihen seiner Zähne und zog sich das Telefon heran. Ein Blick durchs Fenster, dann wählte er die Telefonnummer, die auf der Seitenwand des Pritschenwagens stand.
    Nach sieben oder acht Klingelzeichen hob jemand ab: »Hallo?«
    Der Stimme nach musste die Frau am anderen Ende schon über siebzig sein. Beißner schluckte seinen Ärger herunter und erklärte freundlich, um was es ging.
    »Tut mir leid«, sagte die Frau. »Vor zehn Jahren ist mein Mann gestorben und da habe ich die Firma aufgelöst und den Wagen verkauft.«
    »Wissen Sie noch, an wen?«
    »Das waren zwei junge Männer aus Litauen oder Lettland. Aber wie sie hießen? Vergessen. Und die Unterlagen habe ich mittlerweile alle entsorgt.«
    »Trotzdem Dank für die Auskunft. Und entschuldigen Sie die Störung.« Er legte auf und holte das gelbe Branchenbuch aus dem Flur. Staunte darüber, wie viele Abschleppunternehmen es in Bochum gab. Er wählte jenes, das für die Stadtverwaltung die Falschparker aus der Innenstadt entfernte.
    »Beißner. Irgendjemand hat ein Schrottauto vor dem Haus der Oberbürgermeisterin geparkt. Charlottenweg 37. Ich möchte, dass Sie das Teil so schnell wie möglich entfernen.«
    »Moment: Steht der Wagen auf einer öffentlichen …«
    »Das ist hier eine Anliegerstraße. Die einzigen Anlieger auf dreihundert Meter Entfernung sind wir. Das Auto steht zum Teil auf unserem Boden, hat kein Kennzeichen und ein Fahrer ist nicht zu sehen. Es muss weg.«
    »Aber …«
    »Wollen Sie der Oberbürgermeisterin etwa diese Bitte abschlagen?«
    »Schon gut. Wir kommen und sehen, was sich machen lässt.«
    Beißner lächelte, als er den Hörer weglegte. Kaum eine Kommune im Umkreis ließ so rigide abschleppen wie Bochum. Wenn die Stadt dem Unternehmen ihre Gunst entzog, konnte die Firmenleitung das Handtuch werfen.
    Beißner räumte das Geschirr in die Spülmaschine und beseitigte alle weiteren Spuren des Frühstücks. Dann rief er in seiner Kanzlei in Hattingen an:
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