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Grafeneck

Titel: Grafeneck
Autoren: Rainer Gross
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erschossen. Oder jemand hat ihn hierhergeschleift. Aber es gibt keinen Zugang. Aber wo ist dann die Waffe …?
    Lange sitzt Mauser, ohne sich zu rühren. Der Mensch steht nicht auf und wird nicht lebendig. Dann begreift Mauser, daß ihm dieser Mensch anvertraut ist. Dieser Mensch und die Geschichte seines Lebens, die dunkle Angelegenheit seines Todes. Niemand weiß von seinem Grab, und hätte Mauser nicht die Lehmplombe erbrochen und die Totenkammer entdeckt, würde in hundert Jahren noch niemand davon wissen.
    Er gehört mir, denkt Mauser. Ich bin es, der ihn entschlüsseln muß. Wer er war, wie er hierherkam, warum er starb.
    Der Gedanke an Polizei ist lächerlich. Der Gedanke an Waiblinger, den Dorfpolizisten, erst recht. Was hat das Hacken der Schreibmaschine in Waiblingers Büro, der Geruch nach Aktenschränken und Bohnerwachs, die Gießkanne, aus der Waiblinger seine Kakteen wässert – was hat das mit einer Pharaonengruft zu tun? Mit dem Tod, der zerbrechlich in der Tiefe der Erde verwahrt wird? Der Tod, der lichtlose, lehmumschlossene, gehört nicht in Amtsstuben. Jedenfalls nicht sofort.
    Zuerst brauche ich ein wenig Zeit, denkt Mauser. In aller Ruhe nach Spuren suchen. Er möchte den Hergang entblättern wie im Steinbruch einen Schieferbrocken, sorgsam den Schneckenschmuck freischälen, der zwischen den ölfeuchten Platten aufgespart wurde für ihn, den späten Beobachter, der ihn zu lesen versteht. Er möchte die Schichten aus Heimlichkeit abtragen, behutsam mit Pinsel und Pinzette, um das in sie Eingebettete zu bestimmen.
    Morgen wird er wieder herkommen und ein paar Sachen mitbringen, eine Lupe vielleicht oder einen Fotoapparat oder vielleicht tatsächlich eine Pinzette. Was braucht man zur Erkundung eines Toten?
    Gedankenlos gräbt er mit den Fingernägeln im Lehm und nimmt eine Probe mit. Das tut er immer, also muß er es auch diesmal tun. In der zweiten Halle überlegt er sich, ob er den Gang wieder zuschaufeln soll, aber das würde genauso auffallen und ihn jedes Mal eine Menge Arbeit kosten.
    Keuchend langt er draußen an. Die Luft ist süß vom Waldgeruch, die Sonne blendet. Vögel zwitschern in den Buchen. Der Anzug schlottert ihm feucht und lehmverschmiert um den Leib, als er zur Straße hinuntersteigt. Am Motorrad zieht er sich um, stopft den Anzug in eine Plastiktüte und verstaut ihn in den Packtaschen.
    Ein Mann mit seinem Trecker tuckert den Steig herauf und will zu seinen Äckern.
    »So«, ruft der Mann herüber. »Der Herr Lehrer. Berg und Tal kommen nicht zusammen, aber die Leut.« Mauser erkennt ihn, es ist der Eugen Mattes. Er trägt einen braunen Cordhut und eine blaue Latzhose. »Sind wir wieder im Dreck rumgekraucht, ha?«
    Mauser nickt und zwingt sich zu lächeln.
    Der Mann hält an, die Bremse rastet ein.
    »Was gibt’s denn da? Suchst Gold, oder was?«
    »Klar«, erwidert Mauser und schraubt die Karbidlampe vom Helm ab. »Wenn Ferien sind und die Lehrer nichts zu tun haben«, sagt er und lacht dazu, »gehen sie auf Schatzsuche.«
    Der Bauer lacht zurück. »So schön wollt ich’s auch mal haben. Nix zu tun und aus lauter Passletemps im Dreck rumkrauchen!«
    »Jaja, wer kann, der kann.«
    »Ist wohl wahr!«
    »Und? Was machen die Acker?«
    »Schreien nach Geschäft. Aber das Wetter ist trocken, hoffentlich bleibt’s so.«
    »Du bist doch schon über die Siebzig, Eugen. Willst nicht mal Schluß machen mit der Ackerei?«
    »Weißt, ich schaff noch, bis der Sargdeckel drauf ist. Ich kann halt nicht anders.«
    Zum Abschied lüftet er den Hut und fährt ruckend an. Während Mauser alles verstaut und aufsitzt, den Schlüssel im Zündschloß dreht, das grüne Lämpchen aufleuchtet, atmet er erleichtert auf. Hier, im Licht des Tages, ist der Gedanke an die Mumie in der Höhle nur noch absonderlich. Ein grausiges Geheimnis, das er da hütet, und als er losfährt, weiß er nicht, ob er das lange durchhält.

2
    »Veronika, der Lenz ist da!« sagt er unten an der Haustür. Sie schaut aus dem Küchenfenster und schimpft.
    »Du mit deinen blöden Sprüchen! Warte, ich mach dir auf!«
    Er steigt die steile Treppe hinauf. In der Küche riecht es nach orientalischen Gewürzen. Er schnüffelt. Veronika hebt die teigverklebten Hände, als er sie kurz umarmt und ihr einen Kuß gibt.
    »Schön, daß du da bist.«
    Draußen ist es noch hell. Die Tage werden länger. Das Haus liegt am Hang eines Seitentals, an der Straße, die hinauf nach Haidenegg führt; vom Küchenfenster aus kann er auf die
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