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Grafeneck

Titel: Grafeneck
Autoren: Rainer Gross
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Hauptstraße schauen, auf die Giebel des Rathauses, auf den gegenüberliegenden Talhang, wo der Judenfriedhof liegt. Von der Lauter dringt Kinderlachen herauf. Eine Katze streift an der Hecke entlang, eine Amsel zetert.
    Er seufzt.
    »Was hast du denn?« fragt Veronika und formt aus dem ausgewellten Teig kleine Taschen auf einem Backblech. Er schaut ihr zu, beobachtet ihre breiten Hände mit den kurzen, dicken Fingern. Der Ring an der Linken, der unter buttrigem Geschmier hervorblitzt. Wie ihre Hände Teigvierecke abstechen, den Fleischteig daraufballen, sacht die Ecken darüberfalten, mit der Gabel die Ränder festdrücken.
    »Sieht aus wie Maultaschen«, sagt er.
    »Es sind aber keine. Das ist türkisch, du wirst es mögen.«
    Immer erstaunt es ihn, wie ihre plumpen Hände so geschickt sind. Mit so viel Zartgefühl begabt, denkt er. Wie sie aus dem armseligen Stoff der Welt auf der Töpferscheibe so kunstvolle Gebilde hervorbringen. Oft schaut er ihr dabei zu, so wie er jetzt beim Falten der Fleischpaketchen zuschaut, und wundert sich über die Vasen, Teller, Schüsseln, die aus dem Nichts entstehen. Es ist ein Wunder, denkt er oft. Sie erschafft aus dem Nichts, wie Gott. Sie umkleistert das Nichts mit Hüllen, und erst dieses herausgegrenzte Nichts ist Etwas, ein Ding, ein Gesicht, eine Botschaft.
    »Was hast du denn? Du bist so komisch.«
    »Auch nicht komischer als sonst«, erwidert er.
    »Ach, komm!«
    Draußen zetert immer noch die Amsel. Die Katze ist im Gebüsch verschwunden. Der Himmel hat eine sonderbar dämmrige Helle, eine Durchsichtigkeit, als läge dahinter die weite Welt.
    »Ostern«, sagt er leise zum Fenster.
    »Was hast du heute gemacht?« fragt Veronika.
    Er geht in die Stube hinüber und deckt den Tisch. Die Decken sind niedrig im Obergeschoß, die Fenster klein. Veronika hat keine Vorhänge dran, nur schmale Häkelstores, durch die die Nachbarn hereinschauen können.
    Unten in der umgebauten Garage hat sie ihre Werkstatt eingerichtet. Obwohl Ostern ist, kommen die Kunden, wann sie wollen. Veronika hat keine Öffnungszeiten, sie ist da oder nicht. Man drückt den unteren Klingelknopf, es dauert eine Zeit, dann geht die zweiflügelige Tür auf und die Künstlerin steht vor einem, mit der glänzenden Gummischürze um den Bauch und farbigen Händen. So wie jetzt, während sie die letzten Teigtaschen füllt. Farben der Erde. Pigmente aus dem Boden. Man wird in den Ausstellungsraum geführt, wo auf kühlen Regalen das Tonzeug aufgereiht steht, unscheinbar zuerst, dann im blassen Licht von draußen glänzend. Kirschrot glasiertes Teegeschirr, Schalen mit graublau geronnenen Strahlenkränzen, Schmuckteller mit schneeweißen Fließzeichen auf Umbragrund. Sehr schön, sagt man, wirklich sehr schön. Und was kostet das? So fragen die Touristen, die zufällig das Schild an der Hauptstraße gesehen haben. Die Kenner fragen: Haben Sie etwas Neues? Die Künstlerin kann davon leben. Die Leute im Dorf schütteln den Kopf darüber, ein bißchen neidisch, aber nicht allzusehr, verständnislos, aber nicht allzu besorgt. Manche Kunden kehren im »Pflug« ein oder entdecken das Dorf an der Lauter für ein paar Ferientage.
    »War in einer Höhle beim Münzloch heute«, antwortet er. »Ein bißchen rumgesucht, aber nichts gefunden.«
    »So so«, sagt sie und schenkt dem Blech, das sie in den Ofen schiebt, ihre Aufmerksamkeit.
    »Kennst mich ja«, fährt er fort. »Wenn ich mir was in den Kopf gesetzt hab …«
    Als sie einander am gedeckten Tisch gegenübersitzen, jeder ein Glas Wein vor sich, Kerzen brennen, aus der Küche duftet der Backofen, meint er: »Wenn es Münzloch heißt, hat das seinen Grund, weißt. Solche Namen deuten auf römische Funde. Irgendeiner hat dort etwas gefunden und der Höhle den Namen gegeben …«
    »Wann?«
    »Weiß nicht. Irgendwann, siebzehntes Jahrhundert. Müßte man im Katasteramt nachschauen, auf den Flurkarten, weißt. Kann natürlich auch bloß eine etymologische Umdeutung sein.«
    »Ach, Hermann«, sagt Veronika lächelnd.
    »Kann alles sein. Das weiß man nicht. Nix Gewisses …«
    »… weiß man nicht!« ergänzt sie, beide lachen.
    Beim Essen ist er nicht recht bei der Sache. Nicht, daß er ständig an etwas anderes denkt; aber in ihm ist ein luftdichter Raum, an den er nicht herankommt, er lenkt ihn ab durch seine hartnäckige Verschlossenheit. Er bekommt ein schlechtes Gewissen Veronika gegenüber. Er hat das Gefühl, sie zu betrügen. Er sitzt mit ihr beim Essen und trägt
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