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Grafeneck

Titel: Grafeneck
Autoren: Rainer Gross
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Kirche zu, grüßen einander gemessen, die Hälse der Männer werfen Falten über den engen Hemdkrägen. Kirchgänger, denkt Mauser und grüßt zurück. Ich bin auch so einer. In der Kirche ist es kühl und hell. Die Bänke knarren, Kerzen brennen auf dem Altar, die Gesangbücher riechen schwartig. Seines in der Hand, setzt sich Mauser in eine der vordersten Reihen. Das Altartuch ist violett und zeigt in Gold eingestickt ein Lamm mit einem Kreuz über der Schulter.
    Ein Hauch von Andacht weht ihn an, den alten Lehrer. Er blinzelt im Sonnenlicht, das durch die weißen Glasfenster hereinfällt. Ostern, denkt er. Oben auf dem Talhang, wo die Wacholderheide ist, haben sie immer Eierrollen gespielt, Mutz und er und Vater und Mutter. Die bunten Kugeln hüpften und kollerten durch das schilfrige Gras, bis eines anknackste und liegen blieb und gegessen werden durfte. Mutz verstand das nicht und schubste, damit sie weiterkollerten. Ihr ging es um die Freude, die sie hatte, und sie lachte immer wie eine Fünfjährige, egal wie alt sie wurde. Sie wurde genau zwanzig Jahre alt. Damals war Mauser erst acht, und was seine große Schwester hätte sein sollen, war eine einfältige, ständig lachende Idiotin. Er hatte sich daran gewöhnt, mit ihr mitzulachen, er hatte gelernt, daß man sich auch über kleine Dinge freuen kann. Schmetterlinge, Blumen, wie das Wasser an einer Schnelle hüpft und solche Sachen. Sonniges Gemüt, denkt Mauser. Wo sie jetzt ist, ist es wahrscheinlich finster. Merkwürdige Gedanken für einen festtäglichen Kirchgang, doch der erste Choral, der angestimmt wird, macht sie durchaus passend. O Tod, wo ist dein Stachel nun, raunt die Gemeinde mit morgenklammen Kehlen, ein paar jubilierende Altweiberstimmen darüber: Wo ist dein Sieg, o Hölle?
    Gegenüber, jenseits des Mittelgangs, sitzen die Hundersinger, die keine eigene Kirche haben. Eugen sitzt im Sonntagsanzug, mit Nadelstreifen und Krawatte, neben ihm. Er zwinkert mit seinen geröteten Augen und hustet schleimig. Mauser nickt ihm zu und legt sein Gesangbuch vor sich auf die Bank. Dann lehnt er sich zurück.
    Das Sitzen in der Bank, im Licht, umgeben vom Stimmengewoge, macht ihn dösig und zufrieden. Der Gedanke, nachher den Anzug mit der Höhlenkluft zu vertauschen und wieder in die Dunkelheit zu kriechen, zu Schlamm und Kälte, behagt ihm nicht. Der Herr ist auferstanden, halleluja! Aber der, der dort liegt, wartet auf ihn. Der ist noch in der Nacht und will ans Licht, mit seiner Geschichte und seinem Unrecht und allem. Ach was! denkt Mauser. Einmal noch. Werd mir alles gründlich anschauen. Unter den Fingernägeln, sinniert er und spricht den Introitus gedankenlos mit, muß er was haben. Dreck. Lehm. Eine geologische Schicht. Der Herr ist wahrhaftig auferstanden. Alles hat seinen genauen Ort. Vielleicht finde ich die Kugel. Vielleicht gibt es irgendwo doch noch einen zweiten Zugang.
    Während der Predigt nickt er beinahe ein. Der Pfarrer mit seiner leisen, dünnen Stimme verliert sich im Glanznebel des Kirchenschiffs, seine Worte träufeln herab wie Regen, schaukeln durch die Luft wie Federn einer geschlagenen Beute. »Ich bin die Auferstehung und das Leben«, sagt der Pfarrer auf der Kanzel, »wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist.« Mauser schreckt hoch und wähnt sich einen Moment lang in einer Gerichtsverhandlung. Gericht? Nie vor Gericht gewesen! Moment, will er Einspruch erheben. Wer tot ist, wird nicht wieder lebendig! Er liegt noch in der Höhle …
    Da stehen alle zum Gebet auf. Das Knarren von Holz, das Rascheln von Kleidern, Räuspern, eine seichte Flut aus Geräuschen, die ihn mitnimmt und hochhebt. Bin eingedöst, sagt sich Mauser. Vater unser, der du bist im Himmel.
    Am Ausgang verabschiedet der Pfarrer jeden mit Handschlag.
    »So, Hermann. Schön, daß du da warst.«
    »Ist doch Ostern«, antwortet er und hält die lasche Hand des Pfarrers in festem Griff. »Leben nach dem Tod – das ist doch ein Grund.«
    »Ich hoffe, du hast was mitgenommen.«
    »Hat gutgetan«, bekräftigt Mauser.
    »Man sagt, du bist jetzt unter die Schatzsucher gegangen?« fragt der Pfarrer freundlich.
    »Schatzsucher? Ach so, das Münzloch«, erwidert er.
    »Ja ja, die Schätze der Vergangenheit. Aber wenn ich was find, dann sind’s halt alte Scherben und Knochen. Davon wird keiner reich.«
    Beiderseitiges Kopfnicken, Feiertagswünsche zum Abschied. Auf der Dorfstraße lenken manche den Schritt zum Gasthof hin, um bis zum Mittagessen einen
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