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Grafeneck

Titel: Grafeneck
Autoren: Rainer Gross
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ein Geheimnis mit sich herum, eines, das ihn wegnimmt aus der Gesellschaft von Menschen, schon unteilbar geworden, und sie weiß nichts davon. Sie weiß nicht, daß da etwas in sein Leben getreten ist. Ja, er betrügt sie.
    Mit einer Mumie.
    »Ich hätte Lust, an Ostern mit dir ein bißchen auf den Friedhof zu gehen«, sagt Veronika plötzlich. »Auf den israelitischen.«
    Sie nennt ihn immer israelitisch. Nicht jüdisch, weil sie nicht aus der Gegend stammt. Die allgegenwärtige deutsche Vergangenheit hat sie eine Moral gelehrt, die von gewissen sprachlichen Feinheiten und wohldosierten Empörungen lebt. Aber sie ist nicht hier gewesen, damals. Sie hat nicht die Braunen im offenen Wagen durchs Dorf fahren sehen, Lieder grölend, und sie ist auch nicht dabei gewesen, als die Leute sie am Ortsausgang gestoppt haben. Mit Knüppeln, Sensen und Holzlatten bewaffnet, Hermanns Vater unter ihnen. Juden waren auch dabei. Sie hat nicht die Angst in den jungen, glatten Gesichtern gesehen, als der Vater seine Pistole hob. Den dunklen Fleck, der auf der Hose des SA-Sturmtruppführers erschien, zwischen den Beinen.
    Israelitisch.
    »Damals waren es noch Juden«, sagt er laut.
    »Streiten wir doch nicht.« Sie nimmt einen Schluck aus ihrem Weinglas. Draußen ist es jetzt dunkel geworden, der Geruch von Gras und Erde weht herein. Die Amsel singt auf einem der Obstbäume im Garten.
    »Möcht morgen noch mal in die Höhle.«
    »Hast du immer noch nicht genug davon? Ich verstehe dich nicht …«
    »Und ich versteh nicht, was du immer auf dem Friedhof willst.«
    »Das müßtest du doch am besten wissen. Die Grabmäler erzählen Geschichten, weißt du, Geschichten von den Menschen, die hier gelebt haben.«
    »Die erzählen gar nichts.«
    »Aber natürlich. Herr Waltz kann dir über jeden Namen etwas sagen. Was denkst du denn, woher er das weiß? Auch nur, weil er den Geschichten nachgeforscht hat.«
    »So gesehen«, erwidert Mauser, »müßt ich das verstehen.«
    »Die Festschrift kommt nächstes Jahr heraus, hat Herr Waltz gesagt. Dann ist er fertig. Sie haben jetzt alle identifiziert, die damals abtransportiert wurden. Nur ein paar, von denen weiß er nicht, wo sie geblieben sind.«
    »Ich weiß. Und für jeden stellt er eine Holzlatte auf, mit dem Namen in Ölkreide geschrieben.«
    »Eben. Das ist auch Heimatkunde.«
    »Das brauchst mir nicht zu sagen.«
    »Bist du vielleicht brummig heute! Was ist denn los?«
    »Mit solchen Holzlatten –«, beginnt er, besinnt sich aber.
    »Gehst du dann morgen mit in die Kirche?«
    »Warum?«
    »Weil morgen Ostern ist. Hast du das vergessen?«
    »Nein, ich mein: Warum fragst?«
    »Nur so. Und hinterher gehst du in die Höhle …?«
    Er nickt. Sie steht auf und geht in die Küche, um die Teigtaschen aus dem Backofen zu holen.
    »Morgen, habe ich mir gedacht, mache ich Lamm«, ruft sie herein. »Das paßt doch zu Ostern, was meinst du?«
    Kurz öffnet er den Mund, um es ihr zuzurufen. Um zu sagen, zwischen Backofenduft und Kerzenlicht: Ich habe einen Toten gefunden. In der Höhle. In der Unterwelt. Und ich will ihn nicht hergeben. Ich will ihn für mich haben, bis ich weiß, was mit ihm geschehen ist. Ich muß noch einmal hin, um mir alles genau anzusehen. Wenn er so lange gelegen hat, weißt, kommt es auf ein paar Tage auch nicht an. Aber er bleibt stumm, hört sie in der Küche hantieren. Mit solchen Holzlatten haben sie damals auch, denkt er. Und Vater mit der Pistole, einer alten P 04 aus der Kaiserzeit. Die Dienstpistole hat er nie für solche Sachen benutzt. Mir blieb nichts anderes übrig, hatte er Hermann später erzählt. In Öltücher eingeschlagen, liegt die P 04 noch heute im Keller. An die hundert Jahre alt. Manchmal nimmt Hermann Mauser sie heraus, zerlegt sie, putzt sie, baut sie wieder zusammen. Wie er es mit seinem Moped tut, jedes Jahr einmal. Eine Schachtel Patronen gehört dazu, das alte Sieben-Komma-Sechs-Drei-Kaliber. Mit gezogener Waffe stand Vater vor dem Truppführer, württembergischer Gendarm, das war er und wollte er bleiben. Und glaubte zu wissen, was Recht und was Unrecht sei.
    Hätte ich das getan? fragt Mauser sich.
    Und doch hat er den Abtransport von Mutz nicht verhindern können. Was nützt es, Recht und Unrecht zu unterscheiden?
    Die Teigtaschen brutzeln leise, als sie, aus der Ofenhitze kommend, auf dem kalten Teller liegen.
    »Ja«, sagt Mauser abwesend. »Hinterher in die Höhle.«

3
    Sonniger Morgen. Die einzelnen Fußgänger auf den Trottoirs streben der
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