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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich
Autoren: Pelle Sandstrak
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Das Dorf

    Das Dorf liegt in einem Tal. Glaubt man der Lokalzeitung, dann fließt der beste Lachsfluss von ganz Europa mittendurch und teilt es in zwei gleiche Teile. Das Dorf hat im Winter dreitausend Einwohner, im Sommer kommen dreizehntausend Touristen, von denen zehntausend auf Lachse gehen. Neben einer Reihe von Lehrern, einem Arzt, ein paar Veterinären und dem Bezirkszahnarzt wird die Gegend hauptsächlich von Bauern bevölkert.

    Das Dorf ist der letzte Außenposten auf der Pilotenkarte, dahinter verlässt das Flugzeug Skandinavien und nimmt nach links gen Island, Grönland, Kanada oder die USA Kurs. Dann lässt man sowohl das Dorf wie auch die Halbinsel und Skandinavien hinter sich. Man sieht nur noch Nebel und so weit das Auge reicht graues, verregnetes atlantisches Meer. Doch weit kann das Auge gar nicht reichen, denn an dreihundert Tagen im Jahr regnet es. Wenn allerdings im Sommer zufällig die Sonne scheint, dann herrschen gern mal dreißig Grad, und das Tal verwandelt sich in den größten Umluftherd der Welt.

    Außer im Garten zu kratzen, angeln zu gehen oder Kinder zu machen, kann man dem großen Vergnügen nachgehen, einmal im Jahr die Wanderung der Lachse den Fluss hinauf zu beobachten. Wir nehmen Thermoskanne, Waffeln und Campingstühle mit, und dann stellen wir uns mitten auf die Brücke und halten Ausschau nach den ersten wandernden Lachsen des Jahres. Drei Stunden später haben wir das dann hoffentlich für dieses Jahr wieder hinter uns. Während des Lachsfestivals treffen oder trennen sich Menschen, ehe sie wieder in die Gärten ziehen, und später in die Schlafzimmer.

    So werden Menschen geboren und sterben, und die meisten im Dorf sind warmherzige und nette Menschen, die für einander nur das Beste wollen. Das Beste ist für die meisten der große zeitlose Tratsch, der jeden Tag aufs Neue geboren wird und nur selten abstirbt.

    Unsere Schule besteht aus vier Gebäuden – zwei roten und einem grauen, plus einem Schwimmbad.

    Von der Grundschule bis zur Mittelstufe waren wir achtzehn in der Klasse. In der Neunten verschwanden drei von uns: Der Südsame übernahm die Rentierherde, Entwicklungsland-Erik wanderte nach Kenia aus, und der Dritte ging zur See oder ertrank freiwillig.

This is your captain speaking

    (1976) Ich sitze an Gate 7, direkt an der Tür. Der Mathelehrer trägt wieder dieses graubraune Samtjackett, das wie Menschenhaut aussieht. Er ähnelt einem Känguru mit Robin-Hood-Frisur oder Robin Hood in Kängurugestalt. Ich denke daran, dass ich den Mathelehrer noch nie in etwas anderem als in dieser verdammten Menschenhaut gesehen habe. Ich denke Gedanken, von denen ich nicht wusste, dass es sie gibt.

    Rasch blättere ich durch die Mathearbeit. Lief diesmal wieder nicht so supergut. In der letzten Zeit habe ich einfach nicht so den richtigen Flow.

    »Ging doch ganz gut«, sagt das Känguru, ohne mich anzusehen.

    Jeden Donnerstag geht das Känguru mit Papa auf Lachse. Das Känguru mag mich nicht, aber es mag meinen Vater, den mögen alle. Also tut das Känguru Papa zuliebe so, als würde es auch mich mögen.

    This is your Captain speaking .

    Nach der Mittagspause haben wir frei. Die Norwegischlehrerin erwartet ihr drittes Kind, und sie haben noch keine Vertretung gefunden. Wir kriegen frei, wenn wir versprechen, dass wir stattdessen zu Hause lernen. Alle versprechen, stattdessen zu Hause zu lernen. Wir sollen eine fünf Zeilen lange, kleine Geschichte über etwas schreiben, das wir mögen. Als aber die Norwegischlehrerin, die also ihr drittes Kind bekommen wird und die mit dem Känguru verheiratet ist, sagt, dass wir fünf Zeilen über etwas schreiben sollen, was wir wirklich mögen, da denke ich, eigentlich weiß ich nicht, was ich wirklich mag.

    Und ich sage es so, wie es ist:

    »Ich weiß, was ich mag, aber ich weiß nicht, was ich wirklich mag.«

    »Denk dir was aus«, antwortet sie darauf.

    Boeing 747 ready for take-off, denke ich, ohne es eigentlich wirklich zu denken. Ich denke wieder ready for take-off und dann seltsame Gedanken, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gibt.

    Ungefähr eine Stunde später finde ich mitten auf der Straße ein Stück Eis. Es sieht aus wie ein durchsichtiger Eishockeypuck. Ich fange vorsichtig an, ihn zu treten. Er gleitet, gleitet fein, sanft, gut, sehr schön. Börje Salming allein auf dem Eis. Der Puck, das Eis, Börje Salming und ich. Ich versuche, den ganzen Weg von der Schule nach Hause den Puck vor mir zu halten, bis zum
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