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Grafeneck

Titel: Grafeneck
Autoren: Rainer Gross
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Schoppen zu trinken.
    »Kommst mit?« rufen sie herüber.
    »Nein. Geh noch in die Höhle. Schatzsuche, verstehst?«
    Sie lachen wissend. Der Mauser, der alte Schatzgräber. Der Dreckwühler. Wenn sie wüßten, welchen Fund er gemacht hat.
    Zu Hause hängt er den Anzug wieder in den Schrank und packt seine Siebensachen. Der Olivanzug ist noch feucht von gestern, breite Lehmverkrustungen, die abbröckeln. Die Maschine steht friedsam in der besonnten Werkstatt, fahrfertig. Als er sich bereit macht, aufsteigt, den Helm überzieht, würde er gerne weiter fahren als bloß bis zur Höhle. An so einem Tag, denkt er, sollte man unterwegs sein. Wie früher. Herumkurven, an Waldrändern liegen, wo es schon warm ist, einkehren und erst abends heimkommen. Zum Lammessen bei Veronika. Oder allein in der stillen Stube, beim Kaffee, blaue Dämmerung. Die Amseln draußen. Nachdenken. Ich weiß auch nicht, denkt er, startet den Motor und fährt die Maschine durch die Werkstattür hinaus. Nachdem er hinter sich zugeschlossen hat, nimmt er den bekannten Fahrweg.
    Er kehrt zur Höhle zurück wie zum Schauplatz eines Verbrechens. Ist es ja auch, denkt er. Aber beklemmend. Arglos wartet dort der Platz an der Kehre, wo er sein Moped abstellt. Die Hänge sind frühlingskahl, braun vom Laub und bunt von Lerchensporn. In den Bäumen sind Vögel unterwegs, die hängen Gesanggirlanden in den Wald. Alles unschuldig und heiter, wäre es ein anderer Tag, ein anderer Gang. So aber verhöhnt ihn die Feiertagshelle, sein düsteres Geheimnis fängt ihn ein und macht ihn zum einsamsten Menschen an diesem Ostertag.
    Der Eingang scheint ein wenig anders zu liegen als in der Erinnerung. Der Weg nach innen dauert länger, die Enge setzt ihm zu. Als er die zweite Halle erreicht, erkennt er sie zunächst gar nicht. Er leuchtet den Boden nach seinen Spuren ab, aber es braucht einige Zeit, bis er sie ausfindig macht. So deutlich, wie er gedacht hat, sind sie nicht. Hier verlieren sich die Deutlichkeiten; Bedeutungen und Fährten, die im Tageslicht wie zentimetertiefe Trittsiegel erinnert werden, sind inmitten des Zufälligen und Belanglosen unkenntlich. Er sucht ungeduldig herum, bis er endlich den Schluf zur Lehmkammer entdeckt. Mit ungutem Gefühl beugt er sich herab und kriecht hinein, in die stickige Röhre, angefüllt von seinen Geräuschen. Den Kaminknick meistert er diesmal leichter, und als er die Kammer erreicht hat, ist er sich einen Augenblick lang sicher, daß sie leer ist.
    Vier, fünf Schritte lang bestätigt sich sein Glaube, bis er hinten an der Wand das Bündel sieht, das verdorrte, unansehnliche Geheimnis, um dessentwillen er hier ist.
    Er liegt noch da.
    Nur wirkt er kleiner, hilfloser als gestern. Alles Rätsel der Geschichte ist von ihm gewichen, selbst der Tod hat ihn verlassen. Was bleibt, ist eine Hülle, ein bloßes Zeichen, das zusehends unentzifferbar wird.
    So hat Mauser sich das nicht vorgestellt.
    Wenn ich schon einmal hier bin, sagt er sich und packt aus seiner Tasche aus, was er mitgebracht hat. Zuerst ein Foto, Elektronenblitz und hinter dem Toten eine Silberfolie aufgehängt. Dann eine Faserprobe des Anzugs, auch wenn er die nicht selbst wird untersuchen können. Er knöpft vorsichtig das Jackett auf und findet auf der Innenseite ein Etikett: Gminder KG, Reutlingen. Ehemals großer Textilbetrieb in der Kreisstadt. Hat wann dichtgemacht? Vor Kriegsende. Die Zeit, erschrickt Mauser. Hier steht sie und wartet auf ihn. Die Vergangenheit. Die Nazi-Zeit. Die Zeit seines Vaters. Das bestätigt seine Vorahnung von gestern. Dann hebt er behutsam den Kopf des Toten an, mit Handschuhen natürlich. Rezente Knochen, denkt er. Neandertaler wär mir lieber. Genickschuß, denkt er. Von hinten durchs Auge. Der muß geblutet haben wie eine geschlachtete Sau. Aber nichts zu sehen auf dem Lehm. Der ist nicht hier erschossen worden, folgert Mauser. Witzlos, die Hülse zu suchen. Nach so vielen Jahren. Wie vielen? Gminder, Reutlingen. Mehr als fünfzig. Zuletzt die Schmutzränder unter den Fingernägeln. Mit einer Nagelfeile bröselt er sie in ein Tütchen. Staubfeine Erde, ganz klar, das ist nie und nimmer Höhlenlehm.
    Der ist nicht hier erschossen worden.
    Aber wie ist er hierhergekommen?
    Und der Verstorbene kam heraus, an Füßen und Händen mit Grabtüchern umwickelt. Dummes Zeug.
    Vorsichtig legt er die dürren Hände zurück in ihre jahrzehntelange Ruhe. Sie scheinen zu klein zu sein für den Anzug, sind wohl stark geschrumpft. Sorgfältig
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