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Der Mörder von St. Pauli (Zwischen den Welten)

Der Mörder von St. Pauli (Zwischen den Welten)

Titel: Der Mörder von St. Pauli (Zwischen den Welten)
Autoren: Wolfram Alster
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    Als ich
aufwache, ist es fast Nachmittag. Draußen ist es diesig, die Wolken lassen kein
bisschen Sonne durch und verbreiten ein tristes Grau. An das Gurren der Tauben
auf meinem Balkon habe ich mich längst gewöhnt, es stört mich nicht mehr.
Carlos dagegen scheint es gestört zu haben, denn er ist längst gegangen. Ich
habe nicht auf die Uhr gesehen, wann. Er ist weg. Ohne Abschiedskuss, ohne Kaffee.
Einfach so. Wie alle in den letzten Monaten, die ich für wertvoll genug hielt,
mit zu mir zu kommen - oder für geil genug. Die meisten anderen sind gerade gut
genug, meine aufgestaute Lust zu befriedigen. Ich meine, wofür gibt es
schließlich Darkrooms? Im PIT - das ist meine Lieblingskneipe - gibt es ein
ganzes Stockwerk davon. Jeder, der die Szene in meiner Stadt kennt, weiß, wo
ich wohne. Wenn ich noch das „Daniels“ erwähne, eine Stricherkneipe, in der ich
mich auch ganz gerne zeige, dann dürfte jedem klar sein, dass Hamburg gemeint
ist.
     
    Und in den
letzten Monaten ist wirklich alles schief gegangen, was schief gehen konnte.
Damit, dass ich meinen Job verliere, habe ich von Anfang an gerechnet. Ist ja
auch kein Wunder, so oft, wie ich krank war. Meine Projekte waren mir wichtiger
- und nun brechen sie mir den Hals. Ich sag nur Hartz IV. Und als
Haupterwerbs-Callboy kann ich auch nicht auf Dauer leben. Tagsüber die
Randgruppen der schwulen Gesellschaft im Bett, und abends dann die Typen, die
mir wirklich gefallen. Aber für länger als ein, zwei Nummern bleibt auch keiner
bei mir. Resignation pur.
     
    Früher war
das anders. Früher hatte ich Freunde, auf die konnte ich zählen. Aber diese
Zeit ist längst vorbei, auch wenn ich mir das Gegenteil einrede. Ja, sicher
habe ich Freunde. Menschen, die gerne die coole Szeneschlampe sehen, der man
auf der Toilette mal schnell irgend etwas einführen kann und die gerne alles
mitmacht. Menschen, die sich mit der „Freundschaft“ zu einem Callboy schmücken.
Menschen, die gerne mit mir spielen. Und es hat eine Weile ne ganze Menge Spaß
gemacht, dieses Spiel mitzuspielen. Irgendwann bin ich aufgewacht, habe meine
Augen geöffnet. Gesehen, wie diese Welt funktioniert. Gefühlt, wie weh es tut,
wenn man Spielball ist.
     
     
    Beschlossen,
vom Mensch zum Arschloch zu mutieren, um ausnahmsweise einmal auf der anderen
Seite der Macht zu stehen, und festgestellt, dass sich dieses Gefühl geil
anfühlt. In Momenten wie diesen blicke ich in meinen Spiegel und frage mich, ob
ich wirklich auf dem richtigen Weg bin. Und ob es überhaupt noch mein Weg ist,
oder nur der, den man mir aufoktriniert hat? Den ich für meinen Weg gehalten
habe, als ich diesen verließ?
     
    Arnold ist
an allem schuld. Ich habe Arnold durch Zufall kennen gelernt. Ein Typ, viel zu
jung für mich. Und viel zu hart. Aber ich habe ihm in die Augen gesehen und gewusst,
dass ich diese Augen schon einmal irgendwo gesehen habe. Nicht hier, nicht in
diesem Leben. Aber irgendwo. Und sie waren mir sehr nahe. Also habe ich mich in
ihnen verloren. Zugelassen, dass ich in und mit ihnen träume. Doch es war die
falsche Entscheidung. Ich habe ihm ein Stück von mir hingehalten, doch er hat
mir ins Gesicht gelächelt und dieses Stück zurückgewiesen. Und meine Welt brach
zusammen.
     
    Später,
als ich aufgewacht bin, habe ich mir meine Welt wieder zusammengebaut. Hier ein
Stück hinzugefügt, dort ein bisschen zusammen gesponnen und am Ende ein
Stückchen zurechtgebogen, aber auf die Wahrheit kommt es gar nicht so sehr an.
Nur darauf, dass es sich gut anfühlt. Wenn mich sowieso andere benutzen und mit
mir machen, was sie wollen, dann sollen sie wenigstens dafür bezahlen. Dann tut
es nicht so weh. Weil dann habe ich ja etwas dafür bekommen, dass sie mich
benutzen. So kam ich zum Anschaffen. Ich rede mir selbst ein, dass ich diesen
Job nur mache, wenn ich Lust dazu habe. In Wirklichkeit mache ich ihn nur, wenn
es mir zu gut geht. Damit ich nie vergesse, dass ich es eigentlich nicht
verdient habe, dass es mir gut geht. Ich muss leiden. Ich muss immer noch
fühlen, dass ich da bin.
     
    Irgendwo
da, tief drinnen bin ich. Ein kleines Stückchen von mir muss da noch sein. Das
ist nämlich genau das kleine Stückchen in mir, was immer aufschreit, wenn ich
mir selbst weh tue, und das ich dann belügen muss, wenn ich mich schlecht
fühle, dem ich dann erzählen muss, dass andere schuld daran sind. Ich bin nie
schuld. Ich bin das kleine unschuldige weiße Lämmchen. Die bösen Wölfe sind
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