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Grafeneck

Titel: Grafeneck
Autoren: Rainer Gross
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durch die Öffnung. Er schaltet die Taschenlampe an, doch auf den ersten Metern reicht das Licht vom Eingang noch aus.
    »Und wo liegt sie jetzt?« fragt er.
    »Hab dir doch gesagt, ganz hinten in der Kammer. Haben noch eine schöne Strecke vor uns.«
    »Oh laß halten!«
    Mauser läßt sich behende auf alle viere hinunter und kriecht voraus. Die Decke senkt sich tief herab, dann kommt die Wasserstelle. Hände und Knie werden naß, aber Mauser zwängt sich halbwegs trocken hindurch. Waiblinger steckt bis zum Bauch im Wasser. Mauser läßt ihn mit sich selbst zurechtkommen und kriecht voraus. Der Atem und die Geräusche seines Begleiters verändern den Ort. Als sie in der Kammer ankommen, von der der enge Schluf ausgeht, zeigt Mauser auf die Öffnung.
    »Hier, schau dir das an«, sagt er und beleuchtet die Stelle.
    »Was soll man dazu sagen!«, sagt Waiblinger. »Da komme ich doch nie durch.«
    »Sag ich doch. So geht’s mindestens drei Meter, und dann macht der Gang einen Knick nach oben. Das schaffst du nicht.«
    »Und jetzt?« fragt Waiblinger ratlos. »Das ist ein amtlicher Vorgang. Wir können den nicht einfach abbrechen.«
    »Irgend jemand muß da rein«, meint Mauser und unterdrückt ein Grinsen. »Ich meine, mit mir zusammen.«
    »Das gefällt dir jetzt«, sagt Waiblinger und hält die Hände steif, weil der Dreck zu trocknen beginnt. »Daß ich mir da nicht Zutritt verschaffen kann.«
    »Ich hab’s dir gleich gesagt.«
    »Wir müssen die Höhle absperren«, sagt Waiblinger. Sein Atem wölkt im Lampenstrahl. »Ich muß ein Spezialkommando aus der Kreisstadt rufen.«
    »Mach das mal«, sagt Mauser und wendet sich um, beginnt den Weg zurückzugehen, den sie gekommen sind.
    Draußen vor dem Eingang versucht Waiblinger, seine Hände im Laub abzuwischen. Aus dem Streifenwagen holt er ein rot-weißes Absperrband und klettert mit ihm wieder zur Höhle hinauf. Er bringt ein Stück davon quer über dem Eingang an und zusätzlich sperrt er ein Viereck davor ab. Das Band befestigt er an Stöcken, die er in die Erde gesteckt hat.
    »Der Zutritt zur Höhle ist jetzt jedem verwehrt«, sagt er gewichtig und schaut Mauser an. »Bis die Spurensicherung da war.«
    »Denkst du, die können da rein? Mit ihrem ganzen Krempel?«
    »Beim Bundesgrenzschutz haben wir Spezialleute dafür«, sagt Waiblinger und klopft Mauser auf die Schulter. »Die verschaffen sich überall Zutritt.«
    Sie gehen zurück zum Wagen. Waiblinger breitet auf den Sitzen Plastikfolie aus, damit die Polster nichts abbekommen. Er fährt wieder zu Hause vorbei und zieht sich um. Mauser verabschiedet sich und will auch nach Hause.
    »Das Moped hol ich nachher ab«, meint er zu Waiblinger.
    »Dir ist hoffentlich klar, daß die Sperrung auch für dich gilt«, sagt Waiblinger.
    »Was soll ich noch da drin?« sagt Mauser. »Übrigens, für deinen Bericht: Die Höhle ist nicht das Münzloch. Ist eine kleinere Nebenhöhle, die Lehmkammerhöhle. Nur für deinen Bericht, weißt.«
    Zu Hause geht Mauser erst einmal unter die Dusche. Wenn er an das Absperrband denkt, gibt es ihm einen Stich in den Magen. Jetzt ist die Sache also offiziell, denkt er. Jetzt gehört der Mensch nicht mehr mir. Er ruht da drin im Bauch der Erde und wartet darauf, geboren zu werden. Jahrzehntelang, als hätte er nie gelebt. Das Rätsel besteht noch, vielleicht wird es sogar weiter bestehen, wenn sie ihn abtransportiert und untersucht haben. Das Rätsel hängt an der Höhle, an dem Ort, an dem sich die Geschichte abgespielt hat. Wer weiß, welche Geschichte. Ich hab alles, was ich brauch, denkt Mauser und zieht sich frische Sachen an.
    Im Keller holt er das Tütchen mit der Fingernagelprobe heraus. Während Waiblinger noch auf Verstärkung wartet, wird er schon einmal nachschauen, wo der Mensch vorher gewesen ist. Bevor sie ihn in die Höhle geschleift haben. Ich werde einen Vorsprung haben, denkt Mauser. Ich werde seine Geschichte herausfinden. Das ist alles, was ich für ihn tun kann. Das ist alles, was ich für mich tun kann. Für Vater, der irgendetwas mit dieser Geschichte zu tun hat. Merkwürdig. Es ist, als spräche eine Stimme zu ihm, eine Stimme aus der Landschaft, von dem Ort, der plötzlich eine Bewandtnis hat, eine Stimme unhörbar und unverständlich und dennoch über einen Abgrund von Zeit hinweg. Das hab ich noch nie gehabt, denkt Mauser, so ein Gefühl.
    Er holt sein Moped bei der Polizeiwache ab, jetzt im Lederanzug. Waiblinger steht auf einmal in der Tür, sichtlich zufrieden
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