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Shakespeares ruhelose Welt

Shakespeares ruhelose Welt

Titel: Shakespeares ruhelose Welt
Autoren: Neil MacGregor
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Einleitung
    Im Innern des hölzernen O
«Diese Hahnengrube,
Faßt sie die Ebnen Frankreichs? Stopft man wohl
in dieses O von Holz allein die Helme nur,
Wovor bei Agincourt die Luft erbebte?
O so verzeiht, wenn in engem Raum
Ein krummer Zug für Millionen stehen soll;
Und laßt uns, [Ziffern] dieser großen Summe,
Auf eure einbildsamen Kräfte wirken!
Ergänzt mit den Gedanken unsre Mängel,
Zerlegt in tausend Teile einen Mann
Und schaffet eingebild’te Heereskraft.
Denkt, wenn wir Pferde nennen, daß ihr sie
Den stolzen Huf seht in die Erde prägen.
Denn euer Sinn muß unsre Kön’ge schmücken …»
( Heinrich V ., Prolog)
    B ei einigen Gelegenheiten spricht Shakespeare sein Publikum direkt an. In Prolog oder Epilog, in Gestalt des Chors lädt der Autor seine Zuschauer ein, sich ihm anzuschließen: zu einem gemeinsamen Akt poetischer Imagination. Mit ihm zusammen sollen sie sich für einige Stunden in eine andere Welt versetzen und sie bewohnen. «Ergänzt unsre Mängel», darum bittet, an einer berühmten Stelle, der Chor im Prolog zu Heinrich V. Was aber werden Shakespeares Zuschauer gedacht, empfunden haben, wenn sie das Theater betraten, das «O von Holz»? Welche Erinnerungen brachten sie mit, die sie alle prägten, welche Annahmen, welche Missverständnisse?Was genau würde ihre «einbildsamen Kräfte» wecken? Welche. Befürchtungen, welches Vertrauen, welche zum Gemeingut zählenden Bruchstücke der Geschichte kamen ins Spiel, wenn die Zuschauer «unsre Könige schmücken» sollten? Kurz, welche Szenerie hatten sie im Sinn; wie, vor welchem Hintergrund vernahmen sie, wie Heinrich V. seine Soldaten auf die bevorstehende Schlacht einstimmte; wie sahen sie einen Weber zum Esel werden und Julius Caesar sterben?
    Mit Hilfe zeitgenössischer Texte, gelehrter und literarischer Schriften mag es uns gelingen, in diese inneren Welten zu reisen, so wie dies Ende der 1940er Jahre E. M. W. Tillyard in seinem The Elizabethan World Picture (Das Weltbild der elisabethanischen Zeit) getan hat, und seither ihm folgend auch andere große Gelehrte. Doch viele Menschen waren es nicht, die damals solche Werke der Literatur und Philosophie, der Wissenschaft und Religion gelesen haben, die es uns heute erlauben würden, eine vollständige Kosmologie aufzudecken. Und unter diesen Lesern wiederum waren ganz sicher nicht die jenigen, die die billigen Plätze im Theater füllten. Den alltäglichen Angelegenheiten dieser Zuschauer bringen uns Wirtschafts- und Sozialhistoriker viel näher; so, wie in jüngerer Zeit auch Literaturhistoriker mit Gewinn begonnen haben, Shakespeare in seine Stadt und Zeit zu stellen.
    Die folgenden Kapitel beziehen sich nicht vor allem auf literarische Quellen; die gezeigten Dinge allerdings verbinden sich auch nicht zu einer durcherzählten Geschichte Englands um 1600. Sie wollen uns vielmehr ganz direkt zu einer bestimmten Person, an einen bestimmten Ort führen, zu einer Art zu denken und zu handeln, die wir nur schwer zum Leben erwecken könnten, würden wir ausschließlich mit Texten arbeiten oder aber von weit oben auf die großen historischen Entwicklungslinien schauen. Die gezeigten Dinge sind ein materieller Ausgangspunkt für eine dreiseitige Konversation: Miteinander sprechen die Objekte selbst, die Menschen, die sie benutzten oder sahen, sowie die Worte des Stückeschreibers, die zu einem fest eingewurzelten Bestandteil unserer Sprache und unseres Lebens wurden.
    Es liegt eine merkwürdige Kraft in Dingen: Sie können, einmal von uns hergestellt, unser Leben verändern. Das ist eine Wahrheit, von der die großen Religionen der Welt wussten und die sie auch stets genutzt haben. Heilige Reliquien und geweihte Orte haben diese Kraft, uns in der Zeit zu transportieren und damit zugleich auch zu transformieren. Wir glauben dann, neben den Propheten und den Heiligen zu stehen, ihr Menschsein zu teilen,für einen kurzen Augenblick auch ihre Welt zu bewohnen. Vom Charisma der Dinge bewegt, unternimmt dieses Buch zwanzig Reisen in eine vergangene Welt – dies aber nicht in der Absicht, uns irgendeinem bestimmten Heiligen oder Helden näher zu bringen, schon gar nicht der Gestalt im Zentrum des Geschehens selbst, William Shakespeare. Wir wissen über das, was er tat, recht wenig, können nicht hoffen, mit auch nur annähernder Sicherheit aufzudecken, was er dachte, woran er glaubte. Shakespeares innere Welt bleibt, so bitter das ist, im Dunklen. Stattdessen aber erlauben uns die Objekte in diesem
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