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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Linn Ullmann
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einen Spiegel, und sie zog einen kleinen Spiegel aus der Handtasche, hielt ihn vor ihn hin.
    Das Erste, was er sah, war die fahle Haut. Und dann: Das Geschwür, das im Begriff war, seine ganze Wange zu zerfressen. Und sein gewohnt schiefes Gesicht,
was daher rührte, dass er die eine Augenbraue weggezupft hatte und die andere buschig war.
    Er sagte: »Ich verstehe nicht, was du in mir siehst. Ich bin hässlich und alt und werde bald sterben.«
    Â»Aber du bist nun einmal mein Johan, und ich habe dich lieb.«
    Ihre Stimme war sanft, überzeugend. Er sah sich immer noch an, legte den Kopf auf ihre Schulter. Maj von Malö, summte er, schöne Maj, alle Wellen wollen dich liebkosen. Sie streichelte ihm die Wange und entzog ihm vorsichtig den Spiegel. Sie rückte näher zu ihm heran und flüsterte: »Ich sehe, dass du leidest.« Es war Zeit für ein anderes Gespräch. Er kannte den Tonfall in ihrer Stimme. Ich sehe, dass du leidest. Er ertrug es nicht. Er wollte nicht.
    Er sagte: »Ja. Ab und zu schmerzt es. Es tut weh, sich nachts im Bett umzudrehen. Und der Kopf ... die Kopfschmerzen. Aber mir ist nicht mehr so übel. Das ist immerhin etwas.«
    Â»Ich habe mit der Stationsärztin gesprochen. Emma Meyer.«
    Â»Diejenige, die tanzt.«
    Mai sah ihn verständnislos an.
    Â»Wie meinst du das?«
    Â»Ach, vergiss es!«
    Â»Auf alle Fälle. Emma sagt ...«
    Â»Emma«, Johan unterbrach sie. Er mochte die Verwendung des Vornamens nicht. Emma! Was war denn
das? Er schaute Mai an. Er wollte nicht, dass die Stationsärztin, die nun ebenfalls über sein Leben entschied, so ... so einen romanhaften Namen hatte wie Emma und zu allem Überfluss noch eine Art Freundin von Mai war.
    Sie korrigierte sich.
    Â»Dr. Meyer sagt, dass die letzten Untersuchungen deine Kopfschmerzen erklären.«
    Mehr brauchte sie nicht zu sagen.
    Â»Ich dachte, die Kopfschmerzen kämen vom Wetterumschwung, es war so warm und feucht«, sagte Johan matt. »Aber jetzt fühle ich mich ein wenig besser. Ich habe nicht mehr so starke Kopfschmerzen wie letzte Woche.«
    Â»Nein«, sagte Mai leise.
    Â»Deshalb habe ich, wie gesagt, angenommen, es sei das Wetter gewesen oder die Strapazen der letzten Wochen, eine Art psychische Reaktion. Dass Stress Kopfschmerzen auslöst, wissen schließlich alle. Sogar Kinder haben heutzutage Spannungskopfschmerzen, ich habe gerade einen Artikel darüber in der Zeitung gelesen. Der Stress der Eltern überträgt sich auf die Kinder. Das ist ein großes Problem.«
    Mai nickte.
    Â»Aber Dr. Meyers Untersuchungen zeigen also etwas anderes«, sagte Johan und sah sie an.
    Mai sagte: »Ich wollte es dir selbst sagen ... Ich habe mir gedacht, dass du es von mir hören willst.«

    Â»Mir wäre es eigentlich lieber gewesen, ich hätte es direkt von der Ärztin gehört«, sagte Johan schnippisch.
    Â»Ich bin Ärztin!«
    Jetzt schnappte Mai nach Luft.
    Johan sah zu Boden.
    Bedeutete es denn nichts, dass er jeden Tag kämpfte? Dass er bisweilen kurz davor war aufzugeben, okay. Aber dass er sich andere Male ... dass er sich andere Male umsah und wusste, mich gibt es auch an diesen Tagen. Morgens wird es hell und abends dunkel, und mich gibt es im Licht wie in der Dunkelheit. Bedeutete das gar nichts? Dass es morgens hell wurde und abends dunkel, dass er diese Worte immer wieder vor sich hinsagte, wie eine Beschwörung, wie ein Beweis für ... ja, wofür eigentlich? Er wusste es nicht recht. Aber es beruhigte ihn, wenn er es immer wieder aufsagte. Sag es tausend Mal. Sag: Morgens wird es hell und abends dunkel. Aber was bedeutete es für die anderen? Für Mai? Für die Grüngekleideten?
    Sie fotografierten seinen Körper, fotografierten sein Allerinnerstes, steckten ihn in Maschinen mit Augen, die durch ihn hindurchsehen konnten – aber es waren trügerische Augen. Sie untersuchten die Organe, eins nach dem anderen, und beschlossen, dass dort und dort und dort das Problem lag. Und dieses »dort und dort und dort« bescherte ihnen alles, was sie über Johan Sletten wissen mussten.

    Er schaute Mai an.
    Â»Werde ich die Kontrolle verlieren?«
    Â»Johan ...«
    Â»Werde ich die Kontrolle verlieren, verflucht noch mal?«
    Mai antwortete nicht, sondern sah zu Boden. Sie schloss die Augen und massierte sich mit den Fingerkuppen die Stirn. Johan sagte:
    Â»Ich will nicht,
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