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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Linn Ullmann
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nächsten Tagen schrie er vor Schmerz. Aber es kann nicht sehr laut gewesen sein, denn niemand
hörte es. Sein Kopf war kurz vorm Zerspringen. Er erinnerte sich an etwas, das Mai von Schumann erzählt hatte. Nämlich, dass Schumann, als ihm schwarz vor Augen wurde, ununterbrochen den Ton A hörte. Das war noch, bevor er von der ungeheuer schönen Musik heimgesucht wurde, die er weder aufschreiben noch spielen konnte. Tag und Nacht den Ton A. Unaufhörlich den Ton A. So erging es auch Johan. Ein Summton im Kopf, der immer größer und größer wurde. Er hatte kein absolutes Gehör, aber es hörte sich an wie der Summton im Telefon, und der Summton im Telefon war ein A, das wussten alle. A wie Amor, A wie Arsen, A wie Angesicht, A wie Ananas, A wie Angst, A wie Abrakadabra, A wie Asche. A wie Mai!
    Â»Hast du mich gerufen?« Ihre Stimme war ganz weit weg.
    Â»Kannst du nichts tun?«, flehte er.
    Â»Ich halte deine Hand. Spürst du das?«
    Â»Aber kannst du denn nichts tun, Mai?«
    Â 
    Ein Augenblick der Verwirrung. Geplapper. Worte holterdipolter. Vor und zurück. He und ho. Sing, sing, sing! Mais Tränen. Weit weg ein Flüstern, nicht zu ihm, sondern zu jemand anderem. Jetzt weiß er nicht mehr, was er sagt.

    Und ein Augenblick der Klarheit. Johan vor dem Spiegel an jenem Tag in Värmland. Dies ist mein ... Leben. Dies ist mein ... Leben. Und alles, was er vor sich sah, war ein langer, gerader Strich. Wie Mais langer Zopf. War das alles? Liebe Mai, war das alles? Kein einziger kleiner Bogen?
    Das stimmte ihn nachdenklich. Er wollte einen Bogen haben. Morgens wird es hell und abends dunkel, und im Laufe des Tages dreht er sich um und sieht zum Himmel oder auf die Straße. Das spielt keine Rolle. Aber er dreht sich um. Das ist ein Bogen. Sich umzudrehen ist ein Bogen. Eine schöne, vollkommene Bewegung.
    Morgens wird es hell und abends dunkel, und im Laufe des Tages dreht er sich um.
    Genau so.
    Jetzt konnte er schlafen. Das hatte er gemeint. Er brauchte sich nur umzudrehen, dann konnte er schlafen.
    Â 
    Â»Johan.«
    Mai steht über ihm.
    Â»Johan.«
    Er öffnet die Augen und sieht sie an. Sie lächelt.
    Â»Habe ich dich geweckt?«
    Er schüttelt den Kopf.
    Â»Ellen und Andreas haben eine Tochter bekommen. Dreieinhalb Kilo. Heute Morgen fünf nach sieben mit
einem Kaiserschnitt erlöst. Mutter und Kind sind wohlauf. Das Mädchen soll Agnes heißen.«
    Â»Nach Mutter?«, flüsterte er.
    Â»Ja.«
    Â»Gut«, flüsterte er und schlief wieder ein.
    Â 
    Neue Tage mit Geplapper. Erneut hat er sie mit einem der Grüngekleideten sprechen hören. Er weiß nicht, was geschieht. Er ist ganz weg. Erneut hat er gehört, dass sie weint. Mai weint und die Grüngekleideten trösten sie. Und er wollte rufen, nein! Ich bin nicht weg! Ich bin hier! Aber es tut weh und er schafft es nicht. Es kommen andere Laute aus seinem Mund.
    Und eines Nachts kommt sie zu ihm. Es muss Nacht sein, denn er hat seit langem keinen Laut gehört. Sie setzt sich auf seine Bettkante.
    Â»Johan«, sagt sie.
    Â»Ja, Mai.«
    Â»Johan«, sagt sie noch einmal.
    Er glaubt nicht, dass sie ihn hört, deshalb öffnet er die Augen und sieht sie an.
    Â»Es ist so weit ... nicht wahr?«, fragt sie.
    Â»Ich weiß nicht«, sagt er. »Ich liege hier und warte darauf, dass es hell wird. Hör zu: Morgens wird es hell und abends dunkel, und im Laufe des Tages drehe ich mich um. So einfach ist das.«
    Er versucht zu lachen.

    Â»Es ist eine Beschwörung. Es bedeutet nichts, aber es hilft, wenn man es sich viele Male aufsagt.«
    Sie hört ihn nicht.
    Â»Hörst du mich nicht, Mai?«
    Â»Ich glaube, es ist so weit, Johan.«
    Dieses Mal fragt sie nicht.
    Aber ich sage doch ... du hörst mich nicht.
    Â»Ich kenne dich besser als jeder andere«, fährt sie fort.
    Â»Ich weiß nicht«, sagt er.
    Â»Und wir haben eine eigene Sprache, du und ich.«
    Jetzt plappert Mai wahrhaftig, denkt er. Eine eigene Sprache! Hat man so was schon gehört. Nein, Mai. Maj von Malö. Eine eigene Sprache haben wir nicht, du und ich.
    Â»Eine andere Sprache«, sagt sie.
    Er starrt sie an.
    Â»Und es ist so weit.«
    Â»Nein«, sagt er. Aber sie hört ihn nicht.
    Â»Nein«, wiederholt er. Nicht, Mai! Noch nicht! Bitte! Warte, bis es hell wird.
    Â»Ich liebe dich«, flüstert sie und dann nimmt sie seine
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