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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Linn Ullmann
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ich will nicht ein solch ... nutzloses seniles Etwas werden.« Er hob die Stimme. »Tu was, Mai!« Er flehte sie an. »Tu was!«
    Mai begegnete seinem Blick.
    Â»Ich glaube, du hast Recht. Darüber solltest du mit Dr. Meyer sprechen. Es war nicht richtig von mir, es anzusprechen.«
    Sie wollte ihn nicht anschauen, auch wenn er sie anstarrte. Wusste sie vielleicht, dass sie für ihn ein Spiegel war? Wusste sie, dass sie mit jeder noch so kleinen Grimasse, jeder einzelnen Bewegung, jedem Blick nicht nur verriet, was Dr. Meyer und sie besprochen hatten, sondern auch, was sie und Dr. Meyer daraus gefolgert hatten?
    Es gab keinen Weg zurück. Alles war vorbei. Das war das Schlimmste. Und nach dem Schlimmsten – nichts. Ihm wurde schwindlig, er spürte, wie es im Brustkorb hämmerte, wie die Übelkeit nach oben drückte. Als er anfing zu weinen, legte Mai die Arme um ihn.

    Â»Werde ich mich verändern? Verliere ich die Kontrolle?«
    Mai sah zu Boden.
    Â»Alle werden ihr Bestes für dich geben.«
    Â»Ich gebe auch mein Bestes«, schluchzte Johan.
    Er nahm ihre Hand und wiederholte: »Ich gebe auch mein Bestes, siehst du das nicht?«
    Mai strich ihm über die Haare und flüsterte: »Ich sehe es, Johan. Ich sehe es.«
    Sie hielt die Luft an, zögerte, bevor sie weitersprach und hinzufügte: »Und du brauchst nicht zu kämpfen, wenn du nicht mehr willst.«
    Â»Nein?«
    Â»Nein.«
    Â»Versprichst du mir das?«
    Â»Ich verspreche es. Aber ich muss wissen, ob du immer noch willst, dass ich mein Versprechen halte, das ich dir in Värmland gegeben habe.«
    Johan entzog sich, fuhr sich mit einem Zipfel des Kopfkissens übers Gesicht.
    Â»Darüber will ich jetzt nicht reden!«, zischte er. »Bei Gott, Mai! Setz mich nicht unter Druck!«
    Mai sprach weiter: »Ich will dich nicht unter Druck setzen. Mein geliebter Johan. Das will ich nicht ... Es ist nur so, dass du ...« – Mai suchte nach den richtigen Worten – »... dass du plötzlich ... plötzlich nicht mehr imstande sein könntest, Entscheidungen zu fällen, die dich betreffen.«

    Â»Na und?«, rief Johan.
    Â»Ich will deinem Willen gehorchen«, flüsterte sie.
    Mai stand auf. Das rote Kleid war aus einem schweren Stoff, sicher teuer. Ein neues und teures Kleid. Es stand ihr gut. Sie war hübsch heute, aber auch müde. Unendlich müde. Und dann wurde ihm plötzlich klar, dass für sie schon alles vorbei war. Die Entscheidung war gefallen. Sie hatten sich darauf verständigt, dass sie ihm helfen würde, wenn es unerträglich wurde. Und jetzt wartete sie darauf, dass es unerträglich wurde. Aber wann? Er war nicht bereit. Er konnte immer noch sagen, dass es morgens hell und abends dunkel wird. Und diese Worte waren voller Würde. Aber sie? Für sie war das alles nur sinnloses Warten. Tag für Tag für Tag. Erst hinterher, nach seinem Tod, würde sie ihre Tage wieder mit Sinn füllen können. Mit Tränen und Erinnerungen und Trost und Versöhnung. Mit Leben. Sein Tod wäre eine – und wieder sah er Mais Gesicht vor sich, als sie die endgültige Entscheidung getroffen hatten – sein Tod wäre eine Erleichterung.
    Johan schloss die Augen.
    Mais Gesicht erinnerte ihn an etwas. Das war nicht weiter seltsam. Die Erinnerungen kamen jetzt ständig. Bilder. Scharfe, deutliche, detaillierte Bilder. Aber auch Geräusche, Gerüche, Gefühle. Ein weißer Nacken. Eine Stimme. Ein Zeigefinger. Eine Haarlocke. Wenn er die Kraft dazu hätte, würde er alles aufschreiben. Damit etwas zurückblieb. Etwas, das er
war. Das nicht falsch verstanden werden konnte. Und jetzt, wo er Mais Gesicht vor sich sah, als sie damals die endgültige Entscheidung in Värmland getroffen hatten, erinnerte er sich daran, wie er zwischen Mutter und Schwester auf dem Sofa saß und der Vater im Bett hinter der geschlossenen blauen Tür brüllte. Er erinnerte sich an die Hände auf den Ohren und die Hände, die losließen. Die Geräusche in diesem Moment. Tiefe Atemzüge. Sonst nichts. Nur die tiefen Atemzüge der Mutter und der Schwester. Als wären sie allzu lange unter Wasser geblieben und wären endlich, als der Vater zum letzten Mal Luft holte, nach oben geschnellt und hätten die Lungen wieder mit Luft gefüllt.
    Er schaute Mai an. Ihr müdes Gesicht, ihre Lippen, die
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