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Im Schatten der Vergeltung

Im Schatten der Vergeltung

Titel: Im Schatten der Vergeltung
Autoren: Rebecca Michéle
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1. Kapitel
    Trenance Cove, Cornwall, Sommer 1780
    M aureen runzelte die Stirn, als es an der Tür klopfte. Sie warf einen letzten Blick auf die Zeilen in dem aufgeschlagenen Buch, das vor ihr auf dem Tisch lag:
    ... Eine der Maximen Walpoles war, das Bestehende zu sichern, lieber die Missbräuche zu gestatten, die mit dem eingeführten System zusammenhingen, als Reformen zu wagen, welche den Geist der Neuerung hätten erwecken können ...
    Erst als es zum zweiten Mal hartnäckig an der Tür klopfte, blickte Maureen unwillig von ihrer Lektüre auf.
    »Ja?«
    Die Tür öffnete sich einen Spalt, und die Zofe Nelly trat zögernd ins Zimmer.
    »Mylady ...?«
    »Ich habe doch gesagt, dass ich nicht gestört werden möchte!« Maureen klappte das Buch mit dem Titel Das Leben und Wirken Robert Walpoles zu und legte es zur Seite. »Was gibt es denn?«
    Nelly räusperte sich.
    »Lady Linnley ist soeben eingetroffen. Mr. Jenkins hat sie in den Salon geführt.«
    Maureen erhob sich.
    »Danke, Nelly. Richte Lady Linnley aus, ich bin sofort bei ihr.«
    Maureen war über den überraschenden Besuch der Nachbarin nicht sehr erfreut. Sie liebte die Stunde der Muße am Nachmittag, wenn sie in ihrem Zimmer sitzen und in dicken Büchern lesen konnte. Das Personal wusste, dass sie in dieser Zeit nicht gestört werden wollte, aber ein Besuch der vermögendsten und einflussreichsten Frau der Grafschaft durfte nicht ignoriert werden. Nun saß Esther Linnley im Salon, und der Butler Jenkins servierte den Tee. Maureen warf einen bedauernden Blick auf das Buch, dessen weitere Lektüre bis zum nächsten Tag würde warten müssen, denn wenn Lady Linnley sich erst einmal gesetzt hatte, bestand wenig Hoffnung, dass sich die Dame vor dem Dinner wieder verabschieden würde.
    Maureen trat vor den Spiegel und glättete ihr widerspenstiges Haar. Einzelne Strähnen der dunkelblonden Locken hatten sich aus den Haarnadeln gelöst und fielen unordentlich in Maureens Stirn und in den Nacken. Mit geübten Handgriffen steckte sie die Frisur wieder fest, strich dann über ihr Nachmittagskleid, das auch ohne Zierrat elegant und dem Anlass entsprechend war. Sie verließ ihr Zimmer und traf am oberen Treppenabsatz auf ihre Tochter, die offenbar auf sie gewartet hatte.
    »Mama, ich glaube, die Kutsche der Linnleys ist vorgefahren.«
    Maureen sah den erwartungsvollen Glanz in Fredericas eisblauen Augen, und auf ihren Wangen zeigten sich kleine rote Flecken. »Es besteht kein Grund zu übermäßiger Freude«, sagte sie und nickte Frederica beruhigend zu. »Lady Esther beehrt uns mit einem überraschenden Besuch. Sie kam jedoch allein.«
    »Ach so.« Fredericas Enttäuschung war offensichtlich. »Es hätte ja sein können ...«
    Maureen seufzte verhalten. Sie wusste, ihre Tochter hatte gehofft, George Linnley, den Sohn der Nachbarsfamilie ebenfalls begrüßen zu können. Seit einiger Zeit hatte ihre Tochter aus für Maureen völlig unerfindlichen Gründen ihr Herz an den jungen Sohn der Nachbarn verloren. Maureens wusste nicht, ob sie es begrüßen oder bedauern sollte, dass George Linnley mehr als die übliche höfliche Aufmerksamkeit ihrer Tochter zu schenken schien.
    »Du kannst Lady Esther trotzdem begrüßen und den Tee einschenken«, sagte sie und sah ihre Tochter auffordernd an. »Sie würde sich bestimmt freuen, dich zu sehen.«
    »Oh, da fällt mir ein, ich muss heute unbedingt noch ein paar Briefe schreiben«, wehrte Frederica ab, lief schnell die Treppe ins zweite Obergeschoss hinauf und Maureen hörte, wie die Tür ihres Zimmers lauter als nötig ins Schloss fiel. Sie schmunzelte, denn sie hatte Verständnis für Fredericas offensichtliche Ausrede. Sie selbst hätte ebenfalls gern auf Lady Esthers Gesellschaft verzichtet. Als Hausherrin blieb ihr jedoch nichts anderes übrig, als in den Salon zu gehen und die Nachbarin mit freundlicher Miene willkommen zu heißen.
    »Wer fragt mich eigentlich, ob mir der Besuch gelegen kommt?«, murmelte Maureen, straffte die Schultern, atmete tief durch, wappnete sich innerlich für das Gespräch mit der klatschfreudigen Lady Esther und betrat unverbindlich lächelnd den Salon. Keine Regung in Maureens faltenlosem Gesicht offenbarten ihre wahren Gefühle. Sie beherrschte das Spiel der aufgesetzten Freundlichkeit perfekt.
    Lady Esther Linnley musterte sie erwartungsvoll und mit leicht gerunzelter Stirn.
    »Maureen, ich hoffe, dich nicht bei einer wichtigen Arbeit unterbrochen zu haben. Ich warte immerhin schon seit einer
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