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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Linn Ullmann
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Augen, die Ohrläppchen, rote Sterne, die an einem silbernen Faden baumelten. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, ließ es aber bleiben. Das Versprechen, das sie ihm in Värmland gegeben hatte. Oder das Versprechen, das er ihr gegeben hatte? Er war sich nicht länger sicher. Eine Vereinbarung war es auf alle Fälle, und schuldete er ihr nicht, dass es bald überstanden war? Das, was für sie nicht Zeit war, sondern Warten. Es konnte Wochen dauern, vielleicht Monate.
    Ungewiss, wie lange es dauert, hatte Dr. Meyer gesagt, als er sich nach seinem Zustand erkundigt hatte. Das war es, dieses Ungewisse, was so unerträglich
war. So gnadenlos. Auch wenn – hörst du, Mai! – auch wenn es morgens hell wird und abends dunkel.
    Â 
    Wie viele Tage waren seit dem Gespräch mit Mai in Värmland verstrichen? Wie lange war es her? Waren es Tage oder Wochen? Er hatte den Überblick verloren.
    Â 
    Johan starrte auf seinen Nachttisch. Das waren seine Sachen: eine Morphiumspritze, ein Kalender, der mittelmäßige Roman einer amerikanischen Autorin, die Mai bewunderte – und warum, dachte er, warum zwang er sich, jeden Tag eine Seite in diesem mittelmäßigen Roman zu lesen? Diesem verflucht schlechten Mistbuch, das nur Mai und Frauen wie Mai (er fragte sich einen Moment lang, was für Frauen das waren, aber verfolgte den Gedanken nicht weiter) mögen konnten. Es war vermutlich der letzte Roman, den er lesen würde, und dabei war er nur halbwegs gut oder halbwegs schlecht – das kam auf das Gleiche heraus – und in jeder Hinsicht bedeutungslos. Sein letzter Roman. Warum warf er ihn nicht auf den Boden, zerriss ihn, trampelte auf ihm herum, hüpfte darauf herum, spuckte auf ihn, schrie ihn – ja! – schrie ihn an, er solle zur Hölle fahren? Dass dieser Roman es wagte! Dass er es wagte, auf seinem Nachttisch zu liegen und der letzte Roman in seinem Leben zu sein. Das hier war die Zeit der Meisterwerke. So einfach
war es. Jetzt sollte er sich in das Buch versenken, das er gelesen haben musste, bevor er sterben konnte, das erste, das letzte und einzige Meisterwerk. Johan dachte nach, holte tief Luft ... Macbeth vielleicht? Oder Krieg und Frieden. Absalom, Absalom! Er sah wieder auf den Nachttisch. Andere Dinge: ein Kamm, ein Taschentuch, eine Uhr, ein Discman und ein Walkman. Zwei CDs und eine bedeutungsvolle Kassette: Mozarts Zauberflöte und Bachs Choräle auf CD. Eine Amateuraufnahme von einigen von Schumanns Liedern auf Kassette. Lieder, aber niemand, der sang. Nur Mai, die spielte. Johan erinnerte sich an ein Gespräch, das er mit Mai gehabt hatte, das Fragment eines Gesprächs eigentlich. Nichts, woran sie sich selbst erinnern würde. Es war etwas, was sie über Schumann gesagt hatte, was er nicht vergessen konnte. Robert Schumann, der während einer Reise in die Niederlande 1854 erkrankte, nach Hause zurückkehren musste und in eine Irrenanstalt eingewiesen wurde, nicht nur von Syphilis übermannt, sondern auch von einer heftigen, begnadeten und berstenden Musik, die ihm nicht aus dem Kopf ging, was er auch tat. »Alles Gepolter und Getöse verwandelt sich in ihm zu Musik, und er behauptet, diese Musik sei so großartig und werde von Instrumenten gespielt, die so prächtig seien, dass man dergleichen auf Erden noch nicht gehört hat ... Robert leidet sehr«, schrieb seine Ehefrau Clara in ihr Tagebuch. Clara wurde
geraten, sich von ihm fern zu halten, oder sie wollte nicht bei ihm sein. So verbrachte Schumann – in einer Heilanstalt in Endenich bei Bonn – die letzten zwei Jahre seines Lebens. Die Einzigen, die ihn besuchten, waren Johannes Brahms und sein Freund Joseph Joachim.
    Böse Zungen bezichtigten Clara später der Herzlosigkeit, da sie nicht bei ihm war, als er sie am meisten brauchte.
    Â»Aber das wäre ich auch nicht gewesen«, rief Mai aus. »Weshalb sollte sie bei ihm sein? Es tat ja nur weh.« Und dann sagte sie das, was Johan nie vergessen hatte: »Schumann war nicht mehr Schumann!« Was wollte sie damit eigentlich sagen? Was willst du damit sagen, Mai? Johan fragte nie. Damals nicht, und auch jetzt nicht. Es waren nur Worte gewesen, die sie über einem Glas Wein von sich gegeben hatte, anschließend hatte sie sogleich über etwas anderes gesprochen. Aber, dachte Johan. War nicht Schumann auch Schumann, als er in der Heilanstalt war? War Schumann nur
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