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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Linn Ullmann
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gefunden.«
    Â»Wir haben keinen Boden!«, sagte Johan. »Wir haben nicht einmal eine Dachkammer.«
    Â»Du weißt, was ich meine. In einem der alten Koffer im Keller.«
    Â»Ach so! Das meintest du.«
    Mai sah zu Boden. »Ich habe noch einmal mit Andreas gesprochen. Er möchte gerne kommen. Schaffst du das?«
    Â»Ja.«
    Johan betrachtete sie eingehend. Ihre Ohrringe waren ebenfalls neu. Zwei rote Sterne, die an einem silbernen Faden baumelten. Er sagte: »Du hast von Versöhnung gesprochen?«
    Â»Ja.«
    Er sagte: »Er wird mich beerben, weißt du? 150 000 Kronen plus die Zinsen von zwanzig Jahren. Es war Alices Geld. Du erbst eigentlich gar nichts, Mai, nur Schulden.«
    Mai sah ihn an, streichelte ihm die Wange.

    Â»Hattest du eine schlimme Nacht, mein armer Johan? Du siehst müde aus. Es geht dir nicht so gut, oder?« Er schob ihre Hand weg.
    Â»Ich hatte eine ausgezeichnete Nacht. Ich fühle mich wie ein Marathonläufer. Weißt du, was Andreas für ein Mann ist?«
    Â»Ich kenne ihn ja nicht so gut. Er wirkt netter als bei unserem letzten Gespräch.«
    Â»Er ist ungenießbar. Er ist einer dieser Männer, die alle anderen korrigieren, Freunde und Fremde, Junge und Alte, alle! Er hat keine Hemmungen. Wenn jemand zum Beispiel ein Wort falsch ausspricht, setzt Andreas unmittelbar ein hämisches Lächeln auf und verbessert den Betreffenden. Das Problem ist nur, dass er selbst fast ausnahmslos Wörter falsch ausspricht.«
    Â»Oje«, sagte Mai.
    Johan fuhr fort. »Einmal war er mit ein paar neuen Freunden im Restaurant. Man bemerke, Mai. Immer neue Freunde. Es gibt keinen Menschen auf dieser Welt, auf den Andreas zeigen und von dem er sagen kann: ›Das ist mein alter Freund soundso. Wir kennen uns seit der Schulzeit.‹«
    Â»Das weißt du nicht, Johan«, unterbrach ihn Mai.
    Â»Du hast ihn seit acht Jahren nicht gesehen.«
    Â»Er ist mein Sohn. Ich kenne ihn.«
    Johan holte tief Luft.
    Â»Also! Er war mit diesen neuen Freunden im Restaurant
und ein junger Mann erklärte, er würde sich Chèvre bestellen. Daraufhin lächelte mein Sohn Andreas und sagte: Das heißt Chevré, mit Betonung auf dem zweiten e. Mit accent aigu. So. Er formte den Mund zu einem Kuss und hob ein klein wenig die Hand. Chevré! Einfach, nicht wahr? Niemand hat es ihm gesagt. Dass seine Aussprache absurd war. Sie ließen ihn gewähren, schmeichelten ihm, interessierten sich für ihn, lockten ihn aus der Reserve. Sie fragten, ob er Französisch spreche, und Andreas antwortete, ja doch, er spreche ein bisschen Französisch. Nicht viel, aber oui, oui, natürlich, sagte er und hob das Glas. Dann habe er womöglich den völlig unterschätzten französischen Autor Marcel Bavian gelesen, dessen Erzählungen gerade entdeckt wurden? Eine junge Frau stellte die Frage. Und selbstverständlich hatte Andreas Marcel Bavian gelesen. Mit großer Freude. Vor allem die Erzählungen. Marcel Bavian schrieb vorzügliche Erzählungen: knapp und doch inhaltsreich, ohne sprachliche Prätentionen und voll und ganz auf das Schmerzzentrum des Lesers gerichtet.«
    Johan schaute Mai an.
    Â»So ein Typ ist er. Er kapiert es erst hinterher ... dass, als sie lachten, das Lachen ihm galt.«
    Â»Aber woher weißt du das?«
    Mai lächelte. Sie war ganz Ohr. Sie plauderten miteinander. Das mochte er.

    Â»Er hat es mir erzählt. Nicht so, wie ich es dir jetzt erzählt habe. Nein! Triumphierend, Mai! Wie er dem netten neuen Freund beigebracht habe, den Namen eines französischen Käses auszusprechen – und ob mir in meinen vielen Jahren als Feuilletonjournalist möglicherweise ein Autor namens Marcel Bavian untergekommen sei. War er vielleicht ins Norwegische übersetzt worden? Nein, nicht?«
    Mai sah zu Boden.
    Â»Er kann sich verändert haben«, sagte sie. »Das alles ist vor langer Zeit passiert.«
    Â»Glaubst du, dass sich Menschen verändern, Mai?« Er erinnerte sich an den letzten Tag bei der Zeitung, von Angesicht zu Angesicht mit der bildschönen Praktikantin Dolores. Die Blicke. Das Lachen. Die Erniedrigung.
    Â»Ich weiß nicht«, antwortete Mai. »Ich glaube schon. Ich habe mich verändert.«
    Â»Habe ich mich verändert?«
    Mai sah ihn an.
    Da war er wieder. Dieser Blick auf sein Gesicht. Und in ihrem Blick konnte er lesen, wie es um ihn stand. Er bat sie um
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