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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Linn Ullmann
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drehte sich um. MUTTER!, schrie er. Wo bist du? MUTTER! Er sah sich um. Die Bäume, der Himmel, das Gras. Nichts. Jetzt hatte er ganz sicher alles kaputtgemacht. War er es nicht, der da schrie? Und alles und alle außer der Mutter hatten ihn gehört. Alles war kaputtgegangen. Jetzt konnte er nur noch warten. Er legte sich ins Moos, hielt sich die Ohren zu und dachte, der Sumpf ist schlimmer als die Ungeheuer. MUTTER!
    Und dann spürte er ihre Finger in seinen Haaren, ihre Stimme ganz weit oben bei den Baumwipfeln und dem Licht. Aber Johan! Was ist denn los mit dir? Ich war doch ganz in deiner Nähe.
    Er drehte sich auf den Rücken und sah sie an. Weiß gekleidet, leise, lächelnd, den Zeigefinger über den Mund gelegt.
    Er setzte sich auf.

    Â»Mutter, sieh nur!«, flüsterte er.
    Er zeigte ihr alles, was er gepflückt hatte, bevor er Angst bekam. Sie lächelte, beugte sich über den Eimer, hielt ihr Gesicht hinein und sog den Duft ein.
    Â»Aber du sollst sie selbst nach Hause tragen«, lächelte sie. »Sie gehören dir allein.«
    Â 
    Als Johan die Augen öffnete und sich umsah, war es Abend geworden. Keine Geräusche, fast. Nur der Mann im Nachbarbett, der auf der anderen Seite des Paravents hustete. Er wusste nicht, wer der Mann war. Wenn er zwischendurch allein war, überlegte er, ob er ihn fragen sollte. Sich vorstellen und so. Die Einsamkeit war manchmal unerträglich.
    Aber das konnte man nicht einfach tun, dachte er. Man konnte nicht einfach einem wildfremden Mann, der im Nachbarbett hustete, guten Tag zurufen, mein Name ist Johan Sletten, und die Einsamkeit ist fast unerträglich.
    Â 
    Mai kam jeden Tag. An den ersten Tagen nach dem, was als die letzte und missglückte Operation bezeichnet wurde, sprachen sie nicht viel. Sie hielt seine Hand, fragte, ob die Wunde schmerzte, befeuchtete seine Lippen mit Wasser. Allmählich erholte er sich. Das Morphium war ein Geschenk. Ein wirklich gewaltiges Geschenk der Götter. Im wörtlichen Sinne, dachte er. Benannt nach dem Gott der Träume, Morpheus,
dem Sohn des Schlafgottes Hypnos. Obwohl es Tage gab, an denen er überhaupt nicht müde war. Das Morphium machte ihn munter. Und eines Tages, als Mai zu Besuch kam, saß er im Bett mit einem Kissen im Rücken und las eine Biografie, die in der Zeitung gerade positiv besprochen worden war.
    Mai setzte sich auf die Bettkante. Er sah sie an. Sie hatte sich geschminkt. Nicht sehr stark. Nur die Lippen und die Lider ein bisschen. Mai schminkte sich nie. Aber jetzt hatte sie es getan. Es war schön.
    Und außerdem trug sie ein rotes Seidentuch um den Kopf. Das rote Tuch auf den langen grauen Haaren verlieh ihr etwas Künstlerisches, dachte er. Etwas Karen-Blixen-Artiges.
    Das sagte er zu ihr.
    Â»Und wenn du meine Biografie schreibst, sollst du sie
    â€ºFest im Morphiumtal‹ nennen«, sagte er.
    Â»Fest im Morphiumtal«, lachte sie.
    Â»Ja. Es soll eine lange und leidenschaftliche Trauerschrift über mein Leben werden. Ich glaube, ein solcher Titel verleiht sowohl dir, der Autorin der Biografie, als auch mir, deinem Stoff, eine Art dunkler Aura der Mystik und Erniedrigung.«
    Â»Erniedrigung, genau«, sagte sie.
    Â»Erniedrigung, Mai. Du musst den Eindruck vermitteln, als hätte ich ein hektisches, gefährliches und destruktives Leben geführt.«
    Mai streichelte ihm die Wange.

    Â»Du bist nun einmal mein Johan, du.«
    Da war sie wieder. Ihre sanfte Stimme. Du bist nun einmal mein Johan, du.
    Er schob ihre Hand weg. Das überraschte sie. Ihre Augen wurden feucht.
    Er wollte sie nicht anschauen. Der Mann im Nachbarbett hustete. Johan flüsterte:
    Â»Du hast dich geschminkt, Mai.«
    Â»Nein, nicht wirklich. Ich habe nur ...«
    Â»Du hast dich für mich geschminkt. Du wolltest besonders schön sein, wenn du hierher kommst und deinen sterbenden Mann im Krankenhaus besuchst?«
    Â»Ich schminke mich immer ein wenig. Das weißt du. Es ist heute nicht anders.«
    Â»Und du trägst ein rotes Tuch im Haar?«
    Â»Ja.«
    Â»Du siehst schön aus.«
    Â»Danke.«
    Sie sah zu Boden. Ihre Augen waren immer noch rot.
    Dann sagte sie: »Ich habe mit Andreas gesprochen.
    Ich habe ihn gebeten zu kommen.«
    Â»So? Wollte er das denn?«
    Â»Ich habe ihm gesagt, wie ernst es um dich steht und dass es vielleicht höchste Zeit wäre.«
    Â»Und daraufhin wollte er kommen?«
    Â»Er hat
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