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Gnade

Gnade

Titel: Gnade
Autoren: Linn Ullmann
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erzählt, dass er eine Freundin hat.«
    Â»Das war höchste Zeit. Wie alt ist der Junge jetzt?«

    Â»Ãœber vierzig. Dreiundvierzig, glaube ich.«
    Â»Ãœber vierzig, du.«
    Â»Er hat erzählt, dass er eine Freundin hat. Ellen heißt sie.«
    Â»Ellen«, wiederholte Johan. »Auch sie über vierzig?«
    Â»Nein, nein. Überhaupt nicht. Vierundzwanzig, hat er gesagt. Und ganz süß. Sie arbeitet in der Produktion.«
    Â»Der Produktion von was?«, fragte Johan.
    Â»Ich weiß nicht«, sagte Mai. »In der Produktion. Er hat nur ›Produktion‹ gesagt.«
    Â»Aber meine Güte, Mai. Du musst doch fragen: ›Produktion von was denn?‹«
    Mai seufzte. Er drehte sich um und sah sie an. Sie biss sich demonstrativ auf die Lippen.
    Â»Johan«, sagte sie. Bestimmt jetzt. »Du hast mit Andreas fast acht Jahre nicht gesprochen, und ich kenne ihn kaum. Ich dachte, es sei vielleicht eine gute Idee, wenn ihr miteinander redet, bevor – ja, du weißt schon.«
    Sie unterbrach sich selbst.
    Johan wandte sich wieder dem Paravent zu.
    Â»Haben Sie das gehört?«, rief er dem Fremden auf der anderen Seite zu.
    Â»Ich habe einen Sohn! Er heißt Andreas!«
    Der Fremde hustete. Durch den Paravent konnte er einen Schatten sehen, der sich bewegte.
    Â»Und mein Sohn hat jetzt eine Freundin. Ein richtig
süßes Lämmchen von vierundzwanzig Jahren. Er selbst ist über vierzig.«
    Der Fremde hinter dem Paravent seufzte: »Halten Sie den Mund, Mann! Ich habe auch einen Sohn!«
    Johan fuhr zusammen. Lehnte sich zu dem Paravent hinüber, um zu hören, ob noch mehr folgte. Aber es war jetzt still. Nur das Geräusch eines Körpers, der mühsam versuchte, sich in dem hohen Krankenhausbett von einer Seite auf die andere zu drehen.
    Er wandte sich wieder Mai zu. Ihre Augenschminke war ein wenig verlaufen. Johan lächelte verschämt, nahm ihre Hand.
    Â»Erzähl mir, was Andreas gesagt hat. Wollte er mich sehen?«
    Â»Ja, am Ende wollte er es. Ich musste andeuten, dass du nur noch ... dass du nicht mehr ... dass vielleicht nicht mehr viel Zeit bliebe.«
    Er sah sie an, richtete sich abrupt auf. Ein Ziehen – als würde die Operationswunde reißen. Er schrie auf.
    Â»Warum zum Teufel hast du es dann gemacht?«
    Mai machte den Mund auf, um es zu erklären.
    Â»Warum hast du überhaupt etwas angedeutet? «
    Â»Weil Andreas dein Sohn ist. Er hat ein Recht darauf, es zu erfahren. Es ist eine Möglichkeit der Versöhnung. Ich will, dass ihr euch versöhnt, bevor es zu spät ist.«
    Â»Verflucht, Mai. Du redest, als würde ich morgen sterben.«

    Â»Ich rede über Versöhnung. Ich rede davon, dass die Zeit reif ist für Versöhnung.«
    Sie war einen Augenblick still.
    Â»Johan. Der Grund dafür, dass ich Andreas so viel erzählt habe, war, dass er mir sagte, Ellen sei schwanger.«
    Â»Wer ist Ellen, verflucht noch mal?«
    Â»Seine Freundin. Von der ich dir gerade erzählt habe.«
    Â»Die Vierundzwanzigjährige?«
    Â»Ja.«
    Johan lachte laut.
    Â»Die in der Produktion beschäftigt ist!«
    Â»Ja.«
    Sie schwiegen beide. Dann sagte Mai:
    Â»Ein Enkelkind, Johan. Sie ist im neunten Monat, der Termin steht kurz bevor. Das ist der Grund, weshalb ich das Gefühl hatte, es sei nötig, Andreas so viel zu sagen.«
    Â 
    Es wurde wieder Abend. Mai war seit langem gegangen. Und es wurde Nacht. Warum, dachte er. Warum hatte sie ein rotes Seidentuch im Haar?
    Â 
    Â»Sie putzt sich heraus, Johan.«
    Das war Alices Stimme.
    Alice, seine Frau Nummer eins, das Pferd, setzte sich auf die Bettkante.
    Johan seufzte. Das war nicht gerecht. Litt er nicht
schon genug? Johan wollte den Mann hinter dem Paravent fragen, ob auch er von den Toten besucht wurde. Es war so, wollte er sagen, es war so, als wären die Wände zwischen dieser Welt und der anderen im Begriff zu zerbröckeln. Aber er ließ es bleiben. Er sagte nichts. Mit dem Mann hinter dem Paravent reden zu wollen, würde bedeuten, dass er sich umdrehen musste. Und schon eine ganz einfache Bewegung, wie zum Beispiel die, sich umzudrehen, tat weh und war folglich die Mühe nicht wert. Deshalb blieb er liegen, wie er lag, die Augen weit geöffnet. Er versuchte, an Mai zu denken, aber es beruhigte ihn nicht. Und dann dachte er an Alice. Dass Alice auf seiner Bettkante saß und wie immer
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