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Glutnester

Glutnester

Titel: Glutnester
Autoren: Gabriele Diechler
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zu viel darüber nachzugrübeln, was er schreiben könnte. Lass es aus den Fingern fließen. Schreib einfach, was dir als Nächstes in den Sinn kommt.
    ›Manche Menschen leben nach dem Prinzip: Mehr scheinen als sein. Das habe ich nie verstehen können. Vielleicht, weil ich seit ewigen Zeiten in der umhüllenden Abgeschiedenheit eines bayerischen Dorfes lebe, wo nichts passiert, als dass täglich zählbare Atemzüge die Menschen weiterleben lassen. Hoffend und kämpfend ums kleine Glück.
    Dieser stille Kampf verbindet mich mit ihnen.‹ Ja, genauso ist es, denkt Degenwald. ›Dem Bäcker, dem ich stets frisches Gebäck zu verdanken habe, dem Schreiner, der einen Teil meiner Möbel gemacht hat, der Blumenverkäuferin, die bereits einen Strauß für dich gebunden hat (erinnerst Du Dich?), der Frau im Supermarkt, die mich, obwohl sie es nicht müsste, auf die Aktionen aufmerksam macht, dem Wirt im Wirtshaus, den Kindern auf der Straße, auf dem Weg zur Schule. Mit Dir, Elsa.‹ Degenwald merkt, wie er in den Text hineinwächst. Wie die Worte ihn umschmeicheln, ihm einhauchen: Wir sind dein! Ein Wagnis baut sich vor ihm auf. Er erkennt es und nimmt es, ganz gegen seine Gewohnheit, wie eine Festung. Jetzt hält ihn nichts mehr. Er fühlt sich bereits auf den Schwingen der Liebe dahingleiten. Er muss nur noch Ja dazu sagen. Ja!, antwortet Karl Degenwald. Ja! Ja! Ja! Ich will es wagen.
    ›Die Liebe, die ich für Dich empfinde, seit dem Tag, als Du vor mir standest – mit gebrochenem Herzen , von dem in Deinen Gesichtszügen zu lesen war, und am liebsten hätte ich dieses tragische Herz mit meinen warmen Händen geheilt, um die strahlende Kraft in Dir freizulegen – ist tief und echt. Seit diesem Tag bist Du in meinen Träumen. Und sogar in meinen Tagträumen‹, berichtigt Degenwald sich, denn er will präzise sein.
    ›Meine Liebe ist von der Art, dass sie Dich zugleich schützend umfangen und dabei freigeben möchte. Damit Du mit Deiner unbändigen Kraft die Welt veränderst.
    Vielleicht finde ich eines Tages den Mut, Dir all das zu sagen. Dann würde ich Dir jedes Wort, eingepackt in meine Liebe, zu Füßen legen. Doch bis es so weit ist, träume ich stetig weiter von Dir.
    In tiefer Verbundenheit,
    Karl‹
    Degenwald hält inne. Es ist vollbracht. Er spürt, wie eine zentnerschwere Last von ihm abfällt. Er fühlt sich plötzlich frei. Nicht völlig frei, aber zumindest ein Stück weit befreit. Er faltet den Brief achtsam zusammen. Steckt ihn in ein Kuvert und klebt es zu. Einige Atemzüge lang wiegt er ihn in der Hand. Lächelnd. Ein befreites, spielerisches Lächeln. Er ist der Hüter eines Schatzes. Dann geht er zum Kamin, öffnet das Glasfenster und wirft den Brief hinein. Die züngelnden Flammen umschließen seine niedergeschriebenen Worte. Seine Gefühle und sein Sehnen. Jeden Hoffnungsschimmer. Jedes Wort von Liebe erlischt in Sekundenschnelle.
    »Elsa, du bist mein Stimulus«, flüstert Hauptkommissar Degenwald leise. Dann lächelt er weich. Er schluckt dieses Lächeln hinunter und labt sich daran. Vielleicht ist dies ein kathartischer Moment. Ein Wendepunkt, auch wenn die Wende vorläufig im Inneren, in Degenwalds nicht greifbarem Körper, stecken bleibt. Doch was innerlich vollzogen ist, deutet sich irgendwann im Äußeren an. Der Widerschein der Flammen wirft Licht auf die Schatten in Degenwalds Gesicht. Er lächelt noch immer oder schon wieder. So genau weiß er es selbst nicht. Dann faltet er seine Hände vor der Brust. Senkt den Kopf, als wolle er sich verneigen. Vor den Flammen im Kamin. Einer großen Möglichkeit in seinem Leben.
     
    Später geht Degenwald ins Schlafzimmer und steuert sein Bett an.
    Dieser Tag hatte es in sich gehabt. Gerd Speckbacher war am Flughafen München aufgegriffen worden. Elsa wiederum hatte mit Marissa Kratzer gesprochen und einen Brief von ihr erhalten, der den ersten Teil eines Aktes aufschlug, dessen zweiter Teil die Tat Gerd Speckbachers war, der Luise Gasteiger in ihr Zimmer gesperrt und so ihren Tod verursacht hatte. Die Tat, die er an seiner Mutter, Veronika Steffel, und an seinem Vater, Roland Gasteiger, vollbracht hatte, war ihm leicht zu entlocken gewesen. Ein Irrsinn, der sich so lange aufgebaut hatte und so schnell in sich zusammenfiel. Was sollte mit jemandem wie Speckbacher geschehen? Einem Mann, der sich aufgrund einer Kindheit, die er ständig heraufbeschwor, auf seltsame Liebesspiele einließ. Autoritärer Missbrauch, sexueller Missbrauch, immer nur
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