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Der Pfad im Schnee

Der Pfad im Schnee

Titel: Der Pfad im Schnee
Autoren: Lian Hearn
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KAPITEL 1

    Shirakawa Kaede lag in dem tiefen, der Bewusstlosigkeit nahen Schlaf, den Angehörige der Familie Kikuta durch ihren Blick bewirken konnten. Die Nacht verging, die Sterne verblassten im Morgengrauen, die Geräusche des Tempels um Kaede herum schwollen an und nahmen ab, doch sie regte sich nicht. Sie hörte nicht, wie ihre Begleiterin Shizuka sie immer wieder besorgt beim Namen rief, um sie zu wecken. Sie spürte nicht Shizukas Hand auf der Stirn. Sie hörte nicht, wie Lord Arai Daiichis Männer mit wachsender Ungeduld zur Veranda kamen und Shizuka mitteilten, der Kriegsherr warte darauf, mit Lady Shirakawa zu sprechen. Kaedes Atem ging friedlich und ruhig, ihre Züge waren so unbewegt wie die einer Maske.
    Gegen Abend schien sich ihr Schlaf zu verändern. Kaedes Lider zuckten und auf ihren Lippen lag ein Lächeln. Die Finger, die sich locker zu den Handflächen gebogen hatten, streckten sich.
    Hab Geduld. Er wird dich holen.
    Kaede träumte, dass sie in Eis verwandelt worden war. Die Worte klangen hell in ihrem Kopf wider. In ihrem Traum gab es keine Angst, nur das Gefühl, von etwas Kühlem und Weißem in einer stillen, gefrorenen und verzauberten Welt gehalten zu werden.
    Sie öffnete die Augen.
    Es war noch hell. Die Schatten sagten ihr, dass es Abend sei. Ein Glockenspiel erklang leise, dann war die Luft wieder ruhig. Der Tag, an den sich Kaede nicht erinnerte, musste warm gewesen sein. Ihre Haut unter dem Haar war feucht. Vögel zwitscherten vom Dachgesims und Schwalben klapperten mit den Schnäbeln, während sie die letzten Insekten des Tages fingen. Bald würden sie nach Süden fliegen. Es war schon Herbst.
    Die Geräusche der Vögel erinnerten Kaede an das Bild, das Takeo ihr hier vor vielen Wochen geschenkt hatte, eine Skizze von einem Waldvogel, der sie damals an Freiheit denken ließ. Sie hatte die Zeichnung und alles, was ihr sonst noch gehörte, ihre Hochzeitsgewänder und alle anderen Kleider, beim Schlossbrand in Inuyama verloren. Jetzt besaß sie nichts mehr. Shizuka war es gelungen, in dem Haus, in dem sie gewohnt hatten, ein paar alte Kleider für sie aufzutreiben und Kämme und andere Sachen zu leihen. Nie zuvor war Kaede an einem solchen Ort gewesen, im Haus eines Händlers, wo es nach gärender Soja roch und sich viele Leute befanden, denen sie fernzubleiben versuchte, obwohl hin und wieder die Dienerinnen kamen und durch die Ritzen der Wandschirme nach ihr spähten.
    Kaede fürchtete, dass jeder ihr ansah, was in der Nacht, als das Schloss zerstört wurde, mit ihr geschehen war. Sie hatte einen Mann getötet, sie hatte einem anderen beigelegen, sie hatte neben ihm gekämpft und dabei das Schwert des Toten geschwungen. Sie konnte nicht glauben, dass sie das alles getan hatte. Manchmal fürchtete sie, verflucht zu sein, wie die Leute behaupteten. Sie sagten über sie, dass jeder Mann, der sie begehrte, starb -und das stimmte. Männer waren gestorben. Aber nicht Takeo.
    Seit sie als Geisel auf Schloss Noguchi von einem Wachtposten angegriffen worden war, fürchtete sie sich vor allen Männern. Ihre Furcht vor Iida war so groß gewesen, dass sie sich gegen ihn verteidigt hatte; doch vor Takeo hatte sie sich nicht geängstigt. Ihm wollte sie nur näher sein. Seit ihrer ersten Begegnung in Tsuwano hatte ihr Körper sich nach seinem gesehnt. Sie hatte sich gewünscht, seine Haut an ihrer zu fühlen. Jetzt, als sie sich an diese Nacht erinnerte, wurde ihr erneut unmissverständlich klar, dass sie keinen anderen als ihn heiraten könne, keinen anderen als ihn lieben werde. Ich werde geduldig sein, versprach sie. Doch woher waren diese Worte gekommen?
    Sie drehte leicht den Kopf und sah den Umriss von Shizukas Gestalt am Rand der Veranda. Dahinter ragten die uralten Bäume des Schreins empor. Die Luft roch nach Zedern und Staub. Die Tempelglocke schlug die Abendstunde. Kaede sagte nichts. Sie wollte mit niemandem sprechen, keine Stimme hören. Sie wollte zurück zu diesem eisigen Ort, an dem sie geschlafen hatte.
    Dann bemerkte sie etwas jenseits der winzigen Staubteilchen, die in den letzten Sonnenstrahlen flirrten: ein Geist, dachte sie, doch mehr als ein Geist, weil es Substanz hatte; es war da, unleugbar und tatsächlich, leuchtend wie frischer Schnee. Kaede starrte wie gebannt hin und richtete sich dabei halb auf, doch sowie sie die Erscheinung erkannt hatte, die Weiße Göttin, die große Mitfühlende, die große Gnädige, war sie verschwunden.
    »Was ist?« Shizuka hörte, dass sich
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