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Glutnester

Glutnester

Titel: Glutnester
Autoren: Gabriele Diechler
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gestiegen, weil er so freundlich gewesen sei. Er habe ihr nur seinen Vornamen genannt. Philipp.
    Für Elsa steht fest, Speckbacher ist offenbar tatsächlich eine schizophrene Persönlichkeit. Dessen ist sie sich nach einer kurzen Unterredung mit Annas Freundin sicher. Ein Mann, der eine schreckliche private Geschichte in eine noch schlimmere Zukunft zu verfolgen scheint. Als Kind selbst ohne Liebe, Verständnis und Harmonie aufgewachsen, wurde aus Speckbacher offensichtlich jemand, der sich in eine Scheinwirklichkeit hineinsteigerte und auszuteilen begann. Rache wurde sein Wort. Dazu hatte er seltsame Auswüchse der Liebe im Repertoire.
    Nach einer halben Stunde verlässt Elsa das Krankenhaus. Draußen ist der Himmel immer noch bedeckt. Eine graue Einheitsfläche, aus der ab und zu kurz die Sonne lugt.
    Elsa ruft Anna an. »Was hältst du davon, wenn ich dich in ein richtig gutes Restaurant zum Essen einlade?«, schlägt sie vor. Sie brauchte ein schönes Umfeld, um Anna das mit Nadine klarzumachen.
    »Ist heute so ein Tag, der nur durch was richtig Geiles aufzupeppen ist? Was ist denn passiert, Mama?« Anna lacht, und Elsa wird erneut schwer ums Herz.
    »Das besprechen wir beim Dessert, Anna. Mach dir keine Sorgen. Was immer auch passiert, mit ein bisschen gutem Willen kann man alles hinkriegen. Und damit das gelingt, brauche ich deine Unterstützung.«
    »Also gut. Ich bin dabei«, verspricht Anna, ohne zu wissen, um was genau es sich handelt.
    »Danke, meine Große. Bis später. Ich hol dich zu Hause ab.« Elsa zögert. »Ach ja«, sagt sie schließlich noch. »Denk immer daran, wie lieb ich dich hab.«
    Elsa drückt die Aus-Taste, steigt in ihren Wagen und steuert das nächste Blumengeschäft an. In dem kleinen Laden an der Straße kauft sie eine Komposition aus pastellfarbenen Rosen und Lilien. Die wird sie Helga und Hubert Kratzer vorbeibringen. Sie weiß noch nicht, was sie sagen wird, wenn sie vor der Tür steht und sich entschuldigt. Vermutlich wird man sie nicht hineinbitten. Aber vielleicht wird Hubs Kratzer ihr ansehen, wie ihr zumute ist. Wie leid ihr der Verdacht gegen ihn tut. Vor allem, weil sie damit seine Familie belastet hat.
     
    Karl Degenwald greift nach einem Buch, das er sich per Internetbestellung besorgt hat. ›Die Evolution im Liebesrausch‹, liest er und schlägt das Werk an x-beliebiger Stelle auf. Seine Augen entziffern, als könne es nicht anders sein, eine Stelle, die speziell für ihn geschrieben sein könnte. Das Leben der Wanderalbatrosse, liest er, spiele sich so ab, dass sie ihr ganzes Leben einsam übers Meer schwebten, nur um immer wieder zu einer Insel zurückzukehren und dort mit ihrem Partner – einem, den sie praktisch nie zu sehen bekämen – Eier zu legen und Küken aufzuziehen. »Immerhin«, grummelt Degenwald in sich hinein. »Sie wissen, dass sie einander haben. Und ziehen die Kleinen auf. Mehr, als man je von mir hätte behaupten können.« Das Aufziehen von Nachwuchs ist ihm nie wirklich in den Sinn gekommen. Wie auch, ohne passende Partnerin. Degenwald schließt das Buch mit einem leisen Geräusch und legt es vor sich auf den Wohnzimmertisch. Dort hinterlässt es eine gut sichtbare Visitenkarte seiner selbst. Eine, die davon erzählt, wie oder was er, trotz allem, nie sein wollte. Einsam. Ohne weibliche Verstärkung. Im Raum ist es still. Degenwald registriert den Verlag, in dem das Buch erschienen ist, dann den Autor. Lauter Nebensächlichkeiten. Er begreift, dass er sich dadurch ablenken will. Nur nicht auf falsche Gedanken kommen. Aber weshalb eigentlich nicht? Warum wagt er nicht endlich etwas? Überspringt den Tellerrand und landet irgendwo im Unbekannten.
    Karl Degenwald, der seit unzähligen Jahren keinen Brief mehr formuliert hat, steht auf, geht zum Sekretär und greift nach Papier und Füllfeder. Damit geht er zum Esstisch, setzt sich, fährt sich unsinnigerweise, weil kein Ergebnis damit verbunden ist, durch den Bart und beginnt zu schreiben.
    ›Liebste Elsa‹, schreibt er. ›Hast Du gewusst, dass die Lotusblume über tausend Jahre auf dem Grund eines Sees überleben kann, nur um eines unerhofft schönen Tages auszutreiben und einen Schwall Hoffnung ins Nass des Sees zu bringen?‹ An dieses Phänomen, über das er einmal gelesen hat, erinnert Degenwald sich genau. ›Hoffnung auf den königlichen Anblick einer weißen oder roséfarbenen Lotusblume. Dieser Gedanke rührt mich, wenn er mir einfällt.‹ Degenwald hält inne. Er verbietet sich strikt,
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