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Gloriana

Gloriana

Titel: Gloriana
Autoren: Michael Moorcock
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sich nehmen, um dem Zentrum der Macht und der Herrlichkeit nahe zu sein, entwichene Sträflinge, verarmte Höflinge, welche die Schande fürchten, die sie unten in der Stadt auf Schritt und Tritt begleiten würde, abgewiesene Liebhaber, entflohene Ehemänner, Bankrotteure, Kranke und Neider; sie alle hausen und träumen allein oder in Gesellschaft von ihresgleichen innerhalb ihrer eigenen Territorien nach ihren eigenen Bräuchen, abgesondert von denen, die in den strahlend hell beleuchteten Sälen und Korridoren des Palastes leben, doch Seite an Seite mit ihnen, wenn auch kaum vermutet.
    Zu Füßen des Palastes liegt die große Stadt, Hauptstadt eines Imperiums, reich an Gold und Ruhm, die Heimat von Abenteurern, Kaufleuten, Dichtern, Schauspielern, Magiern, Alchimisten, Ingenieuren, Wissenschaftlern, Philosophen, Handwerkern jeder Art, Senatoren, Gelehrten – es gibt eine alte und hochberühmte Universität –, Theologen, Malern, Seeräubern, Geldverleihern, Strolchen, Tänzern, Musikern, Astrologen, Architekten, Ladenbesitzern, Manufakturarbeitern, Propheten, Asylanten aus fremden Ländern, Tierbändigern, Richtern, Ärzten, vornehmen Damen und Herren, Nichtstuern und Tagedieben; alle drängen sich in den Bierwirtschaften der Stadt, in ihren Speisehäusern, Theatern, Kneipen, Opern und Konzertsälen; auf ihren Plätzen, in ihren Weinlokalen und Gassen, in ihrem Bestreben, um jeden Preis der Konformität zu widerstehen, phantastische Trachten zur Schau stellend, so daß Geist und Witz selbst der Straßenjungen es an Schärfe mit der geschliffensten Konversation des Landedelmannes aufnehmen können; die gewöhnliche Sprache der arabischen Händler und Straßenverkäufer ist so reich an Metaphern und Bezügen, daß ein Dichter aus alter Zeit seine Seele gegeben hätte, um die Redegewandtheit eines Londoner Lehrlings zu besitzen; doch ist es eine Sprache, die zu übersetzen beinahe unmöglich ist, geheimnisvoller als Sanskrit, und ihre Moden wechseln von Tag zu Tag. Moralisten beklagen diese Gewohnheiten, dieses ständige Verlangen nach bloßer leerer Neuheit, und beweisen, daß Dekadenz drohe, das unvermeidbare Ergebnis von Sensationshascherei, doch veranlaßt die Nachfrage nach Neuheiten, bedeutet sie auch ohne Zweifel, daß schlechte Künstler nur seichte Unterhaltung und Effekthascherei hervorbringen, die guten dazu, ihre Stücke mit einer Sprache zu befeuern, die voll Lebenskraft und reich und komplex ist (denn sie wissen, daß sie verstanden werden wird), mit dramatischen und fabelhaften Ereignissen (denn sie wissen, daß ihnen geglaubt werden wird), mit gescheiten Streitgesprächen über beinahe jeden Gegenstand (denn es gibt viele, die ihnen zu folgen vermögen), und so verhält es sich auch mit den guten Musikern, Dichtern und Philosophen – ja selbst mit jenen bescheidenen Verfassern von Prosa, die Legitimität für etwas beanspruchen, was, wie jedermann weiß, eine Bastardkunst ist. Kurzum, unser London ist auf jeder Ebene lebendig; selbst sein Ungeziefer, so möchte es scheinen, ist der Sprache mächtig, und Floh verhandelt mit Floh über die Frage, ob die Zahl der Hunde im Universum endlich oder unendlich sei, während Ratten sich über Tiefgründigkeiten wie die, wer zuerst dagewesen sei, der Bäcker oder das Brot, in die Haare geraten. Und wo die Sprache Feuer fängt, da werden auch entsprechende Taten vollbracht, und die Taten wiederum färben auf die Sprache ab. Wahre Großtaten werden in dieser Stadt verrichtet, im Namen der Königin, deren Palast darauf herabblickt. Expeditionen werden ausgesandt und Entdeckungen gemacht. Erfinder und Forscher bereichern das Land – ein zweifacher Strom fließt in die Stadt, einer aus Wissen, der andere aus Gold, und der See, den sie zu gleichen Teilen bilden, ist der Stoff, daraus London gemacht ist. Und natürlich gibt es hier Konflikte und Verbrechen: Die Leidenschaften sind so stark und hitzig wie anderswo, die Verbrechen oft wilder und abscheulicher, denn die Einsätze können enorm sein; die Habgier ist für viele Religion, der Ehrgeiz eine Droge, eine Krankheit, ein Becher, der niemals geleert werden kann. Dennoch gibt es auch viele, welche die Tugenden der Reichen gelernt haben: die aufgeklärt sind, human, großzügig, wohltätig; die nach der besten stoischen Tradition leben, die ihren Edelmut zur Schau stellen und sich ihren Mitmenschen, den Armen wie den Reichen, als Beispiele anbieten; die für ihren Ernst verspottet, für ihre Bescheidenheit gehaßt
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