Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gloriana

Gloriana

Titel: Gloriana
Autoren: Michael Moorcock
Vom Netzwerk:
kriecht Tallow unter der Tafel hervor, sucht einen Korken, verschließt damit seine Flasche und steckt sie in den Hosenbund. Dann zieht er den Gürtel fest, pfeift leise seine Katze, wirft sie mit zielsicherem Schwung hinauf durch die Öffnung im Holzgitter, steigt auf die Bank, an der er sich das Schienbein aufgeschlagen hat, erreicht mit langen Fingern den Sims und zieht sich hinauf, bis er wieder in seinem Loch ist. Beim Einsetzen des Holzgitters fühlt er die Kälte der ungeheizten Gänge, die ihn erwartet, und bedauert bereits seine übereilte Flucht vom wärmenden Kaminfeuer. Seufzend macht er sich auf den Rückweg. »Siehst du, Tom, das war unsere Silvesterfeier.« Aber Tom hat eine Ratte entdeckt und setzt ihr nach, ohne der Worte seines Herrn zu achten. Als Tallow auf allen vieren dem vom Jagdfie ber ergriffenen Tier nachkriecht, hört er aus dem Raum hinter sich ein hohes, tremolierendes Wehklagen und fragt sich, aus welcher Kehle es kommen mag.
    Magister Ernest Wheldrake, der Hofdichter, hat während dieser Vorgänge in einer Ecke des Gesellschaftsraumes gesessen. Er hat Tallow kommen und gehen sehen, hat die Liebenden belauscht, war aber zu betrunken, um sich von der Stelle zu bewegen. Nun erhebt er sich schwankend, findet seinen Federkiel, wo er ihn vor einer Stunde hat fallen lassen, findet das Notizbuch, darin er seine Verse niederzuschreiben pflegt, wie sie ihm in den Sinn kommen, tritt dem Hanswurst auf die Finger und rauft sich in dem Glauben, er habe ein kleines Nagetier zertreten, das dünne, rötliche Haar und bricht in winselndes Wehklagen aus: »Ach, warum muß ich soviel zerstören?«
    Er verläßt den Raum auf der Suche nach Tinte. Der Tinte wegen hatte er ursprünglich seine weiter als eine Meile entfernte Wohnung verlassen, wo er ein anklagendes Sonett an das Mädchen geschrieben hatte, das ihm an diesem Morgen das Herz gebrochen hat und dessen Name ihm jetzt nicht einfallen will. Unsicheren Schrittes tappt er durch die lampenbeschienenen Korridore, ein kleiner, rotgeschopfter Kranich, der, nach Fischen Ausschau haltend, durch seichtes Wasser watet, die Arme steifen Flügeln gleich herabhängend, den Federkiel hinter dem Ohr, das Buch in der großen Börse an seinem Gürtel, den Blick auf den Boden geheftet, im Bemühen, sich den Namen des herzlosen Mädchens ins Gedächtnis zurückzurufen, zusammenhanglose Alliterationen murmelnd: »Auf sternheller Stufe die süße Sarah saß … Stolze Pamela, durchbohrtest dieses armen Landmanns Herz … O Daphne, welch Unheil richtest du an …« Er biegt um eine oder zwei Ecken und sieht sich unvermittelt an einem Palasttor. Ein müder Wachsoldat salutiert vor ihm. Er bedeutet ihm, das Tor zu öffnen. »Es schneit, Sir«, erklärt der Wachsoldat freundlich und zieht die Schultern in seinem pelzgesäumten Umhang ein, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Vielleicht die kälteste Nacht des Winters, Sir. Der Fluß soll am Zufrieren sein.«
    Magister Wheldrake wiederholt feierlich seine auffordernde Handbewegung und erwidert mit dünner Stimme: »Temperatur ist bloß ein Geisteszustand. Zorn und andere Leidenschaften werden mich warmhalten. Ich gehe hinunter zur Stadt.« Der Wachsoldat nimmt sich den Umhang von den Schultern und legt ihn fürsorglich um den kleinen Dichter. »Dann tragt diesen, Sir, ich bitte Euch. Oder wollt Ihr am Morgen eine Statue in den Palastgärten sein?«
    Wheldrake ist gerührt. »Du bist ein braver Knappe, ein kühner, stolzer Verteidiger Albions, einer der Besten von Boudiccas tapferer Rasse, ein Krieger, dessen Großtaten mehr Ruhm erringen werden als jede krumme Zeile, die Wheldrake zu Papier bringt. Ich danke dir, mein Bester, und entbiete dir ein freundliches Lebewohl.« Damit stürzt er zum Tor hinaus in die dunkel-kalte Nacht und einen vom Schnee überwehten Weg entlang, der sich sanft zu den wenigen Lichtern des schlafenden London abwärts windet. Der Wachsoldat schlägt die Arme um sich, während er dem Dichter eine kleine Weile nachsieht, dann zieht er den Torflügel mit einem lauten Schlag zu und bedauert seine Großzügigkeit, die nicht erinnert werden wird, wenn der Morgen kommt, ist aber auch abergläubisch froh, so früh im Jahr eine gute Tat getan zu haben, durch die er gewiß ein Anrecht auf ein wenig Glück erworben hat.
    Magister Wheldrakes Glück geleitet den Ahnungslosen durch zwei Schneewehen, über einen gefrorenen Teich, durch eine Mauerpforte in die äußeren Viertel der Stadt, wo der Schnee nicht so
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher