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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab
Autoren: Arnaldur Indridason
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ihren Bruder, der mitten im tiefsten Winter auf dem Vatnajökull war, wo das Wetter jederzeit umschlagen konnte. Sie hatte in der Nacht schlecht geschlafen. Um kurz vor sechs stand sie auf, duschte und setzte Kaffee auf. Es gab niemanden, mit dem sie ihr Leben teilte und mit dem sie über ihre Probleme sprechen konnte. Manchmal vermisste sie das.
    Andererseits wohnte sie ganz gern allein. Sie hatte drei Jahre mit einem Mann zusammengelebt, den sie kennen gelernt hatte, nachdem sie von ihrem Studium in den USA nach Island zurückgekehrt war. Er war Jurist wie sie. Als die erste Verliebtheit vorbei war, stellte sich heraus, dass er rücksichtslos und dominant war. Sie war froh, nicht mehr damit leben zu müssen. Als sie sich kennen gelernt hatten, war er ganz anders gewesen, witzig und unterhaltsam. Er brachte sie ständig zum Lachen, verwöhnte sie mit Geschenken und ließ sich alles Mögliche einfallen, um sie zu überraschen. Als sie zusammengezogen waren, kam das immer seltener vor. Es war, als habe er den Fisch jetzt an der Angel, und manchmal schien es Kristín, als sei er dabei, ihr den Angelhaken wieder herauszureißen.
    Sie hatte immer schon auf eigenen Füßen gestanden und war sehr selbstsicher gewesen, aber von Natur aus war sie still und zurückhaltend. Die Privatsphäre war ihr heilig, und einen Mann im Haus vermisste sie nicht. Der Sex war auch nicht gerade 34

    umwerfend gewesen. So wie sie es gemacht hatten, konnte sie genauso gut ohne leben. Nachdem er gegangen war, befriedigte sie sich selbst, wenn sie das Bedürfnis danach hatte. Sie genoss diese Freiheit sogar. Genoss es, dass sie Zeit für sich selber hatte. Dass nur eine Zahnbürste im Bad stand. Dass sie die Wohnung im Tómasarhagi für sich allein hatte. Sie brauchte niemandem Rechenschaft abzulegen. Konnte ausgehen, wann sie wollte, und nach Hause kommen, wann es ihr passte. Sie genoss das Alleinsein. Genoss es, keine Rücksicht auf andere nehmen zu müssen.
    Sie war froh, als alles vorbei war. Sie war sich nicht sicher, ob sie jemals wieder ihre Wohnung mit jemandem teilen wollte.
    Vielleicht war das ein zu großes Opfer. An Kinder hatte sie nie gedacht. Vielleicht hatte sie Angst, ihren Eltern ähnlich zu werden. Es überraschte sie völlig, als der Jurist auf einmal anfing, von Kindern zu reden, nachdem sie eine Weile zusammengelebt hatten. Dass sie sich Kinder zulegen sollten.
    Sie blickte ihn an und erwiderte, dass sie darüber noch nicht nachgedacht hätte. »Dann hörst du vielleicht endlich auf, dir ständig Gedanken über Elías zu machen«, sagte er. Und dann kam dieser denkwürdige Satz: »Elías ist nicht dein Kind.« Nicht dein Kind, dachte sie. Sie verstand nicht, worauf er hinauswollte.
    »Was meinst du damit?«, fragte sie.
    »Du weißt genau, was ich meine«, sagte er.
    »Nein.«
    »Ich meine, dass du dich um ihn sorgst wie um ein kleines Kind.«
    »Wie ein kleines Kind?«
    »Du rufst ihn zehnmal am Tag an. Er kommt dauernd zu uns.
    Ihr seid ständig zusammen in der Stadt. Er hängt abends hier herum. Manchmal schläft er sogar hier auf dem Sofa.«
    »Er ist mein Bruder.«
    35

    »Eben.«
    »Bist du eifersüchtig auf Elías?«
    »Eifersüchtig«, schnaubte er. »Ich finde das bloß manchmal einfach nicht mehr normal.«
    »Nicht normal?«
    »So eine unglaublich enge Beziehung.«
    »Wir sind eben Geschwister. Wir stehen uns nahe. Was ist daran unnormal?«
    »So meine ich das nicht, nicht unnormal, nur … er ist eben nicht dein Kind. Er ist dein Bruder. Ich weiß, er ist viel jünger als du, aber er ist fast zwanzig und kein Kind mehr. Ich habe manchmal den Eindruck, dass du ihn behandelst wie ein Kind.«
    Sie schwieg so lange, dass er die Gelegenheit ergriff, aufzuspringen und unter dem Vorwand zu verschwinden, noch etwas im Büro erledigen zu müssen.
    Kurz danach ging ihre Beziehung in die Brüche. Zuletzt entwickelte sie einen regelrechten Widerwillen gegen ihn.
    Vielleicht hatte er einen wunden Punkt berührt. Hatte ihr die Augen geöffnet, die sie gar nicht öffnen wollte. Nach der Trennung hatte sie andere Männer kennen gelernt, aber das waren nur kurze Affären, denen sie nicht nachtrauerte, außer vielleicht einer. Sie bedauerte, wie sie Schluss gemacht hatte, die Art und Weise, wie es zu Ende gegangen war. Es war ihre Schuld. Sie wusste das. Verdammt peinlich war das gewesen.
    An manchen Tagen, wenn sie allein zu Haus war und nichts zu tun hatte, kam es ihr vor, als blicke sie in ihre Zukunft. Sie sah sich still und
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