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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab
Autoren: Arnaldur Indridason
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für einen Moment ein Licht wie von einer menschlichen Ansiedlung gesehen und war der Meinung, in die richtige Richtung zu gehen. Er fror, seine Schritte wurden immer schwerer, und der Orkan schien eher noch an Stärke zu gewinnen als nachzulassen. Er kämpfte sich weiter durch den Schnee, aber seine Kräfte schwanden zusehends.
    Er dachte an das Schicksal, das die anderen erwartete, die in der Maschine zurückgeblieben waren. Als er sie verließ, verschwand das Flugzeug schon unter Schnee, und die Furche, die es auf dem Gletscher gezogen hatte, wehte bereits wieder zu.
    Sie hatten Petroleumlampen dabei, aber das Petroleum würde nicht lange vorhalten, und die Kälte auf dem Gletscher war mörderisch. Die Tür des Flugzeugs durfte nicht offen bleiben, 6

    weil es sich sonst mit Schnee füllen würde. Wahrscheinlich waren sie jetzt schon im Flugzeug eingeschlossen. Sie wussten, dass sie auf jeden Fall erfrieren würden, ob sie im Flugzeug blieben oder hinaus auf den Gletscher gingen. Die wenigen Möglichkeiten, die ihnen blieben, hatten sie durchgesprochen.
    Er hatte ihnen gesagt, dass er nicht still dasitzen und auf seinen Tod warten würde.
    Er hatte ihnen gesagt, dass er nicht im Flugzeug eingeschlossen werden wollte.
    Die Kette rasselte. Die Tasche zog an seinem Arm. Sie war mit Handschellen an seinem Handgelenk befestigt. Er hatte den Griff schon lange losgelassen und schleifte die Tasche an der Kette hinter sich her. Die Handschellen schnitten in sein Handgelenk, aber das war ihm gleichgültig.
    Ihm war alles gleichgültig.

    Sie hörten das Flugzeug, lange bevor es in westlicher Richtung über sie hinwegflog. Sie hörten durch das Gebrüll des Orkans, wie es sich näherte, aber als sie zum Himmel schauten, war da nichts als winterliche Dunkelheit und peitschende Schneeböen.
    Es ging auf elf Uhr abends zu. Sie hatten sofort an ein Flugzeug gedacht. Wegen des Flughafens der Briten im Hornafjörður hatte all die Kriegsjahre hindurch in diesem Gebiet ein ziemlich reger Flugverkehr geherrscht, sodass sie inzwischen die meisten britischen und amerikanischen Flugzeuge am Geräusch erkannten. Dieses Geräusch hatten sie noch nie zuvor gehört.
    Und noch nie war das Dröhnen so nah gewesen. Es schien, als hielte das Flugzeug direkt auf ihren Hof zu.
    Sie waren nach draußen gegangen und hatten schon eine Weile auf der Treppe gestanden, als das dröhnende Motorengeräusch seinen Höhepunkt erreichte. Sie hielten sich die Ohren zu und 7

    verfolgten das Geräusch in Richtung Gletscher. Für einen Augenblick sahen sie über sich einen dunklen Schatten, der sofort wieder in der kohlrabenschwarzen Nacht verschwand. Sie hatten den Eindruck, dass das Flugzeug zu steigen versuchte.
    Das Geräusch entfernte sich langsam, bis es schließlich über dem Gletscher verstummte. Sie dachten beide dasselbe. Das konnte nicht gut gehen. Das Flugzeug flog zu niedrig. Wegen des Unwetters war die Sicht gleich null, und die Maschine würde in wenigen Minuten zur Beute des Gletschers werden.
    Selbst wenn das Flugzeug noch an Höhe gewinnen würde, wäre es zu spät. Der Gletscher war zu nah.
    Nachdem das Dröhnen erstarb, standen sie noch ein paar Minuten auf der Treppe, starrten in den Schneesturm und horchten. Es war nichts zu hören. Dann gingen sie wieder ins Haus. Sie konnten niemanden anrufen, um ihre Beobachtung zu melden, da die Telefonverbindung vor kurzem durch ein anderes Unwetter unterbrochen worden war. Bei dem Wetter war es unmöglich gewesen, die Leitung zu reparieren. Das waren sie gewohnt. Jetzt war wieder ein Unwetter über sie hereingebrochen und tobte fast noch heftiger als das vorige. Als sie zu Bett gingen, sprachen sie darüber, dass sie versuchen wollten, auf Pferden den nächsten größeren Ort, Höfn im Hornafjörður, zu erreichen. Dort wollten sie das Flugzeug melden, sobald der Sturm nachgelassen hatte.
    Das Wetter beruhigte sich vier Tage später, und sie brachen auf, um nach Höfn zu reiten. Durch den tiefen Neuschnee kamen sie nur langsam vorwärts. Die beiden waren Brüder und wohnten allein auf dem Hof. Ihre Eltern lebten nicht mehr, und keiner von beiden hatte geheiratet. Auf dem Weg machten sie auf zwei Höfen Rast und übernachteten auf dem zweiten. Sie berichteten vom Flugzeug und ihrer Befürchtung, dass es vermutlich abgestürzt war. Die Leute auf den anderen Höfen hatten das Flugzeug nicht bemerkt.
    Als die Brüder nach Höfn kamen, erstatteten sie Meldung über 8

    den Zwischenfall. Die Nachricht
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