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Gilgamesch - Der Untergang

Gilgamesch - Der Untergang

Titel: Gilgamesch - Der Untergang
Autoren: Andreas Geist
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insgeheim bat er sie um Verzeihung dafür, dass er ihre Liebe und sie selbst auf so grausame Weise zurückgewiesen hatte. Er schloss seine Augen, und in diesem Augenblick spürte er, dass sie ihn in ihre Arme schloss, wie vor langer Zeit das Kind, das er nun nicht mehr war. Eine zentnerschwere Last fiel von seinen Schultern. Dann schlug er die Augen auf und öffnete den Deckel der Kiste. Eine Art Lendenschurz aus Sackleinen lag gefaltet darin. Christopher nahm ihn heraus und hielt ihn lächelnd vor sich ins Licht der schwachen Deckenbeleuchtung. Er wollte als Kind an Fasching immer als Indianer gehen. Das war für einen Jungen damals nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich war allerdings, dass er genau wusste, wie dieser Indianer auszusehen hatte. Er trug einen ledernen Lendenschurz, eine Halskette und einen silbernen Armreif, und seine Großmutter hatte ihm gebastelt und besorgt, was er ihr genau beschrieb. Nur das Leder, das sie sich nicht leisten konnte, musste sie durch den groben Stoff eines Sacks ersetzen. Er legte das alte Kostüm behutsam beiseite und darunter lag, wonach er gesucht hatte. Er nahm die Halskette, die aus einem starken Zwirn geflochten war, wie ihn die kubanischen Fischer zur Reparatur ihrer Netze verwendeten, und legte sie sich um. Das weiß schimmernde Amulett lag auf seiner Brust. Es war eine abgesägte Meeresschnecke, ein Windjuwel. Nur ein Zufall? An den Stränden von Kuba lagen sie zu Tausenden. Was lag also näher, als dass seine Großmutter einen Anhänger aus einer dieser Schnecken für ihn machte?
    Dann nahm er den silbernen Armreif heraus. Er war weder erschrocken noch wirklich überrascht.
    Was ihm als silbernes Band in Erinnerung geblieben war, war in Wirklichkeit eine Schlange, die sich in den Schwanz biss. Die alte Frau hatte es geahnt, und als er ihr den Indianer mit den Insignien seiner Häuptlingswürde beschrieb, gab es für sie keinen Zweifel mehr. Sie hatte erzählt, der silberne Armreif stamme aus dem Schatz der heiligen Könige des Morgenlandes. Es sei ein Zauberarmreif, der durch die Zeit fliegen könne und immer dort auf geheimnisvolle Weise auftauche, wo ein ganz besonderes Kind ihn sich wünsche. Die Geschichte hatte ihn fasziniert, doch als er älter wurde, nahm er wie selbstverständlich an, es sei ein schönes Märchen gewesen. Nun kannte er die Wahrheit, die aus jener Welt stammte, deren Existenz er immer geleugnet hatte.
    Auch er würde eines Tages seine goldene Kalenderscheibe auf ihre Reise schicken: seine Tochter Klara.
    In sie würde er sein Wissen und seine Visionen prägen, damit sie wiederum über ihre Kinder, Enkel und Urenkel in einer fernen Zukunft helfen könnte, den nächsten Umlauf des großen Rades der Zeit anzustoßen.
    Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht würde das gewaltige Uhrwerk eines Tages stehen bleiben in einer letzten Finsternis, die nicht mehr endete:
    Finis terrae .
    War auch das ein Teil des großen Planes?
    Er wusste es nicht, und es war auch nicht wichtig. Seine Aufgabe endete, doch er war ein Mosaiksteinchen des gewaltigen Bildes geworden, das die Zeitreisenden in den Sand des Universums legten.
    Er weihte schließlich Carolin in alles ein und war erstaunt, wie gefasst sie es aufnahm, und wie selbstverständlich sich die Dinge jenseits des Verstandes in ihr Weltbild einfügten. Sie war eine intelligente Frau, doch sie hatte auch immer der reinen Vernunft misstraut.
     
    Eines Abends im Frühjahr 2013 kam er aus der Praxis nach Hause und gab sich sehr geheimnisvoll, bis ihn Carolin zur Rede stellte.
    „Du führst doch etwas im Schilde“. Sie grinste.
    „Rate“.
    „Ach komm. Spann mich nicht auf die Folter“.
    Er zog ein Kuvert mit Flugtickets hinter seinem Rücken hervor.
    „Wir fliegen in den Osterferien nach Mexiko. Ich habe ein sehr schönes Hotel südlich von Tulum gefunden, direkt am Meer. Die Gegend ist auf wundersame Weise von den Verwüstungen des UMOs verschont geblieben“.
    „Ich weiß nicht…“.
    Sie konnte sich nicht wirklich freuen.
    „Sollten wir die Geschichte nicht einfach auf sich beruhen lassen?“, fragte sie und kaute unschlüssig auf ihrer Unterlippe.
    Einerseits war die Reise nach Mexiko immer ein Traum von ihnen beiden gewesen, doch sie hatte auch Angst. Dort war die goldene Scheibe des Quetzalcoatls auf ihre Reise gegangen. Gab es an diesem Strand noch immer ein Loch in der Zeit, einen Abgrund, der sie alle verschlingen konnte?
    „Hab keine Angst. Uns wird nichts passieren. Ich glaube, dass wir
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