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Gilgamesch - Der Untergang

Gilgamesch - Der Untergang

Titel: Gilgamesch - Der Untergang
Autoren: Andreas Geist
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ihn ein Gefühl überkam wie in einem Aufzug, der in die Tiefe raste. Dann war das Gefühl vorbei, und er stolperte aus dem Seitenstollen in eine Höhle, die der Tunnel der Schwarzwaldbahn sein musste. Er drehte sich nach Sven um, doch da war niemand.
    Hinter ihm lag die massive Felswand. Der Stollen war verschwunden. Er tastete benommen den feuchten Stein ab, und Panik stieg in ihm auf.
    „Sven, wo bist Du. Antworte doch!“
    Vollkommene Stille umgab ihn. Er war allein, doch an welchem Ort, zu welcher Zeit?
    Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und er erschrak. In einem seltsam fahlen Licht, das vom Ende des Tunnels herkommen musste, stand hinter ihm ein bärtiger, alter Mann. Er trug keine Schuhe und sprach beruhigend auf ihn ein in einer Sprache, die er noch nie gehört hatte.
    Der Greis lächelte ihn an, berührte seine rechte Hand, dann seine linke Hand mit einem spitzen Gegenstand. Dann kniete er nieder und berührte auch seine nackten Füße. Als er sich wieder aufrichtete, erkannte Christopher, was in seiner Hand lag. Es sah zunächst aus wie ein dürrer Stock, eine Art Zauberstab, doch als er genauer hinsah, erkannte er den Gegenstand, dessen Form sich in einem Augenblick des Entsetzens für immer in sein Unterbewusstsein eingebrannt hatte.
    Es war die Spitze eines Hirschgeweihs.
    Christopher begriff mit einem Mal, dass alles einem Plan folgte. Der Druide bewegte sich außerhalb der Zeit und versuchten die Fäden der Ereignisse so zu ziehen, dass die Katastrophen abgewendet würden. Das Mindeste, das er tun konnte, war, seinen Platz einzunehmen und sich nicht aus einem naiven Glauben an die Freiheit des menschlichen Willens gegen sein Schicksal zu wehren. Es gab Zeiten, da musste das Individuum zurücktreten, um zu einem Rädchen in jenem großen Uhrwerk zu werden, das so alt war, wie die Schöpfung selbst. Auch der Mann auf Golgatha hatte sein Schicksal angenommen und sich an den Baum der Erkenntnis binden lassen, der als Arcanum seinen Weg durch die Geschichte der Menschheit fortsetzte, um immer wieder blutige Opfer einzufordern für den grausamen und unersättlichen Gott der Zeit.
    Es war bitterkalt. Sie hatten ihn bis auf einen Lendenschurz ausgezogen. Seine Füße waren von der Flucht über das Geröll zerschunden, und sein ganzer Körper schmerzte.
    Der Greis legte Christopher seine Hand in die blutende Seite. Der Schmerz war mit einem Mal wie weggeblasen.
    Der Druide drehte sich um und die Dunkelheit schluckte ihn augenblicklich. In Christophers Kopf drehte sich alles. Er hatte keine Angst mehr, sondern fühlte sich geborgen in einem Geheimnis, das er nicht verstand, das aber ihn und alle Menschen umschloss wie eine beschützende Hand. Er sank zu Boden und eine traumlose Nacht umgab ihn, in der sein Körper und seine Seele neue Kraft schöpften.

56.
     
    Wer unter der Erde war, sah nichts von den atemberaubenden Phänomenen, die sich am Morgenhimmel des einundzwanzigsten Dezembers 2012 abspielten. Die aufgehende Sonne war ungewöhnlich rot, dann verlor sie ihre symmetrische Form und verzerrte sich wie eine Sprechblase. Die Spitze dieser Blase deutete in eine Himmelsregion, die inmitten der Morgendämmerung vollkommen schwarz blieb. Mehrere Milliarden Menschen auf der Tagseite der Erdkugel traten ins Freie, um das ungewöhnliche Schauspiel zu sehen. Vier Männer dachten an ein Märchen, das ihnen seit ihrer Kinderzeit vertraut war. Dort hieß es, dass der Weltverschlinger einen Stern aus dem Mantel des Himmels gerissen hätte, auf dem an dieser Stelle ein schwarzes Loch zurückblieb, und genau so sah es aus.
    Gewaltige Stürme rasten über alle Länder und Meere, knickten Wälder wie Streichhölzer um und verwüsteten Städte und Küsten. Das Loch im Mantel des Himmels wurde riesig und verschlang das Licht der Sonne, bis vollkommene Finsternis herrschte.
    Dann war alles vorbei. Ein gewaltiger Knall, der binnen einer Sekunde um den Erdball raste, beendete das unheimliche Schauspiel, und die wenigen Menschen, die noch im Freien waren, sahen in einen makellosen Himmel, an dem die Sonne bereits im Zenit stand. Die Datennetze der Welt waren zusammengebrochen, und als man die Atomuhren neu starten wollte, weil sie nicht mehr synchronisiert werden konnten, wurde den Physikern klar, dass man einen Tag Null definieren, und eine völlig neue Kalenderrechnung beginnen musste.
    In den Tagen nach dem Ereignis, das nur wenige Astronomen auf dem Mauna Kea ansatzweise verstanden, wurde offensichtlich, dass sich
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