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GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE
Autoren: Thomas Müller
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gefahren war, zogen bei mir abermals die Graffitis, die riesigen Treibstoffsilos aus Beton und die parallel angeordnete Autobahn vorüber. Nur diesmal war ich nicht allein. Es saß ein Mann vor mir, den ich zwar einen Tag vorher aufgrund der Unterlagen, Berichte, Akten und E-Mails gekannt, aber noch nie gesehen hatte.

neununddreißig
    Per Zug, Bus, Bahn und angemieteter Autos schleppte er mich durch halb Europa. In den nächsten Tagen wurde nicht viel gesprochen. Es war eine Zeit, in der Landschaften, Städte, aber vor allem Bahnhofsschließfächer bei mir vorbeizogen. Und jedes Fach, das er öffnete, enthielt einen neuen Schlüssel, in kleine Döschen oder Schachteln gelegt. Als ob er, einem Osterhasen gleich, an unterschiedlichen Stellen seine Eier versteckt hatte. Es war für ihn zum Spiel geworden, er alleine wusste, wo er die Kette unterbrechen konnte und er wusste, wie es weiterging. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass es eine Reise der inneren Einkehr war. Als ob ich mich ein paar Tage in irgendein Kloster zurückziehen würde, um Exerzitien durchzuführen. Was mich aber am meisten erstaunte, war, wie leichtfertig und locker sich Ello Dox bewegte. Er kannte Grenzposten, die nachts nicht besetzt waren, er wusste wann, wo, welche Züge abfuhren. Mit den wenigen Mitteln war er in der Lage, am effektivsten zu arbeiten, er bewegte sich wie eine Katze, die bei vollkommener Dunkelheit noch mit ihren Tasthärchen und dem feinen Gehör zielsicher ihren Weg findet und Hindernissen aus dem Weg geht. Einmal, ein einziges Mal musste er herzhaft lachen, als ich versuchte, Karl Moors Abhandlung über die Freiheit aus Friedrich Schillers Stück „Die Räuber“ zu zitieren: „Das Gesetz hat zu Schneckengang verdorben, dort wo Adlerflug geworden wäre. Gesetze haben noch nie einen großen Mann hervor gebracht. Nur die Freiheit bildet Extremitäten und Kolosse aus.“
    Er musste herzhaft darüber lachen, als ich versuchte, dieses Zitat ins Englische zu übersetzen, in die Sprache, in der wir uns verständigten. Wahrscheinlich war die Übersetzung so schlecht, dass er ganz etwas anderes verstand, aber dass er herzhaft darüber lachen konnte, erinnerte mich daran, wie schwer es auch manchmal ist, einen Witz in einer anderen Sprache zu erzählen. Es kam ja doch immer auf die Pointe an. Trotzdem verstand er, was ich ihm sagen wollte und er schwieg abermals.
    Wieder ein Schlüssel. Und eines schönen Tages – ich hatte schon aufgehört zu zählen – standen wir am frühen Vormittag vor einer Reihe blau gestrichener Schließfächer an einem gigantischen Bahnhof, auf dem so viel Betrieb herrschte, dass eine verbotene Handlung deshalb schon als unmöglich erschien.
    Als er den Schlüssel in das grobe Schloss steckte, wandte er sich plötzlich zu mir um und fragte mich: „Können Sie mir auch noch dabei behilflich sein, ein paar psychologische Steine aus meinem Leben zu räumen?“ Was ich zunächst noch gedankenverloren bejahte, denn warum sollte ich es nicht tun. Ich konnte die Frage zur Situation nicht einordnen, aber als er gleichzeitig den Schlüssel umdrehte und bemerkte: „So soll es sein“, wurde mir in diesem Augenblick bewusst, dass jetzt etwas Besonderes passieren würde.
    Ich hatte in den letzten Tagen auch den einen oder anderen Gedanken darüber verloren, was ich sagen würde, wenn ich jetzt vor jener elektronischen Bombe stehen würde. Ich malte mir aus, in welch riesenhaften Verstecken er Berge von Papieren, Unterlagen, Dokumenten, Fotos in schweren, eisenbeschlagenen Kisten mit riesigen Schlössern gebunkert hatte. Teilweise überkam mich immer wieder die Assoziation von einer Bombe und ich sah tickende elektronische Uhren mit Kabeln, in Epoxydharz eingegossenen Schaltkreisen vor mir. Und all diese Phantasie gestalten zogen in der Sekunde vorüber, als er die etwa 60 Zentimeter große Türe öffnete. Ich wusste auch nicht, was ich wirklich erwartete. Große Sporttaschen, aus denen Papier quoll? Anzügliche Fotoserien von hochrangigen Persönlichkeiten, wie man es aus amerikanischen Spielfilmen kannte? Alles falsch.
    Was Ello Dox aus dem hintersten Teil dieses Schließfaches herauszog, in das er sich weit hineinbeugen musste, überraschte und verwunderte mich, ja ich würde sogar sagen, es enttäuschte mich, weil ich ganz etwas anderes erwartet hatte.
    Es war eine kleine schwarze Schatulle von etwa zwei Zentimeter Höhe, im Ausmaß von etwa 20 mal 20 Zentimeter. Eine jener Schatullen, die man als Kind noch
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