Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE
Autoren: Thomas Müller
Vom Netzwerk:
Lügen, über Falschheiten, scheinbar unmögliche Verbindungen, und er war im Laufe der Zeit nicht nur an den Bauplan, sondern auch an die Einzelteile einer Bombe gelangt, die mit einer einzigen psychologischen Druckwelle im Zeitalter der Hochgeschwindigkeit und der Medien vieles ausgelöst hätte. Sehr vieles sogar. Ich wusste nicht was und ich wollte es auch gar nicht wissen.
    Aber so, wie nahezu alle Beteiligten in diesem Fall reagierten, war mir bewusst, dass es sich nicht um das Geheimrezept eines Druiden handeln würde, der die perfekte Herstellung einer Bärlauchsuppe beinhaltet. Was hatte das Gespräch in ihm ausgelöst? Würde er überhaupt kommen?
    Ich sah ihn schemenhaft, wie er mit weit aufgerissenen Augen, mir den Atem der Hölle entgegenhauchend, innerlich aufgelöst in meinen Rücken blies: „Ich muss jetzt nachdenken. Kommen Sie morgen um Punkt 6 Uhr wieder. Genau hierher.“
    Ich sah ihn noch vor mir, wie er fluchtartig die Pont de la Machine Richtung Norden davonlief. Hektisch, aufgelöst, aber das erste Mal nicht qualmend. Er hatte keine Zeit mehr gefunden, sich eine Zigarette anzustecken, die er sonst pausenlos in sich hineinhechelte. Was hatte er in den letzten knapp 5 Stunden getan? Hatte er seine innere Ruhe gefunden, oder würde er vollkommen aufgelöst und verzweifelt über all jene Dinge nachdenken, die ihn ohnehin schon seit einigen Jahren belasteten? Würde er wieder und wieder zum Anfang zurückkehren, um mir jetzt, wenn er überhaupt wiederkommen würde, entgegenzuschleudern: „Jetzt wird gehandelt“?
    Ich war müde und ruhig. Ich blickte in den endlos tief wirkenden schwarzen See und erkannte, nachdem ich mehrmals meinen Blick von links nach rechts, von Osten nach Westen hatte streifen lassen, dass dieser Ort, den er ausgesucht hatte, für ihn wahrscheinlich noch eine weitere Bedeutung besaß. Die Pont de la Machine, das Gebäude mit der großen erleuchteten Uhr, welches früher das Elektrizitätswerk von Genf war, war wohl der einzige Ort in dieser Stadt, wo aus einem selbstverständlich natürlichen Umstand, nämlich der Tatsache, dass das Wasser aus dem Genfer See irgendwo austreten musste, dass genau an dieser Stelle und nur an dieser Stelle, einem Trichter gleich, die gesamte Kraft des Wassers in Strom und damit in Kraft und Energie, in Licht, Hoffnung und vielleicht auch in Erleuchtung münden würde. Er hatte diesen Ort gewählt, nicht ich. Er hätte tausend andere Orte wählen können. Er hatte mich hierher bestellt. Er wollte nicht links und rechts der Brücke, nicht in der Altstadt und auch nicht in einer Kirche sprechen. Nein, er wollte auf dieser Pont de la Machine mit mir das Gespräch führen. War er vielleicht doch in der Hoffnung gekommen, dass das Gespräch und die Auseinandersetzung ihm mehr geben würden als die Rache? Ich wagte es nicht zu hoffen.

sechsunddreißig
    In dem Moment, als ich abermals geneigt war, meine Gedanken im schwarzen See versinken zu sehen, spürte ich einen geradezu schneidenden Atem hinter mir. Ich konnte ihn riechen. Aber es war nicht mehr verbrannter Tabak, der mir entgegenkroch. Es war der Geruch eines Menschen, der sich ausgelüftet hatte, der stundenlang durch einen Wald spaziert oder einen Fluss entlang gelaufen war. Es war der Geruch eines Menschen, der nach Schweiß, aber nicht nach unangenehmen Milchsäurebakterien roch. Es war das Geräusch eines keuchenden, aber nicht röchelnden Menschen. Mir war, als ob die Sonne gerade in diesem Augen blick ein bisschen kräftiger ihre Strahlen in einem eigenartigen Fächer in den See warf. Mir war, als ob ich zum ersten Mal erkannte, dass auch in einem Geruch, in einem Geräusch so etwas wie Erleichterung, Hoffnung, ja vielleicht sogar ein Neuanfang stecken konnte. Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich spürte ihn. Ich ließ meine Handflächen, die ich auf dem Geländer abgestützt hatte, langsam nach vorne gleiten und legte meinen Ellbogen auf den kleinen Eisenabschluss. Ich verharrte ein wenig in dieser Situation, zog dann mein Taschentuch und hatte kurzzeitig das Gefühl, dass sich das Wasser direkt unter meinem Gesicht für den Bruchteil einer Sekunde etwas mehr bewegte. Kaum erkennbar, als ob nur ein einziger winziger Tropfen in diesen riesigen See gefallen wäre.
    „Albert Einstein soll einmal gesagt haben“, murmelte ich mehr für mich als für ihn vor mich hin, „dass man eine wirklich gute Idee daran erkennt, dass ihre Verwirklichung von vornherein ausgeschlossen erscheint.“
    Ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher