Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE
Autoren: Thomas Müller
Vom Netzwerk:
schwieg, starrte auf das Wasser und als ein unsichtbarer leichter Windhauch den schwarzen See von der Pont du Mont–Blanc beginnend in Richtung Pont de la Machine fast geheimnisvoll zu streicheln begann, hörte ich mich selbst mit der Inbrunst der vollsten Überzeugung sagen: „Und ich bin davon überzeugt, dass heute Nacht jemand eine wirklich gute Idee geboren hat.“ Mit einem kurzen, fast sehnsüchtigen Blick auf die noch teilweise schneebedeckten Berge der Französischen Alpen drehte ich mich um und blickte in das Gesicht eines fremden Menschen.

siebenunddreißig
    Erstaunlicherweise fügte sich die Antwort dieses für mich fast unbekannten Mannes so logisch und klar an mein philosophisches Gemurmel. „Vielleicht! Lassen Sie uns gehen, wir haben noch eine lange Reise vor uns.“ Ello Dox war verändert. Sein Gesicht, seine Statur, sein Ausdruck. Keine Visagistin der Welt hätte auch mit Zauberhänden innerhalb dieser kurzen Zeit so viel pulsierendes Leben in dieses Gesicht pinseln können.
    Man kennt diese scheinbar innere Erneuerung von kleinen Kindern, die zu Weihnachten, hastig das Papier aufreißend, plötzlich etwas in Händen halten, was nicht auf ihrer Wunschliste gestanden war. Wäre diese Überraschung nämlich draufgestanden, wären sie zwar freudig erregt, aber ihr Gesicht würde nicht diese überschwänglich lebensbejahende Überraschung zeigen.
    Man erkennt das Gesicht an Frauen, die durch Enttäuschung und teilweise Selbstbetrug längere Zeit mehr, um den Schein zu wahren, die körperliche Befriedigung angedeutet, aber nie wirklich erfahren haben und dann wie durch Zufall oder durch einfühlsame, beruhigende Worte oder durch eigene Zufriedenheit und der so notwendigen geistigen Freiheit plötzlich den so lebensnotwendigen Zustand erreicht und in vollen Zügen ausgekostet haben, den man als ehrliche körperliche Befriedigung bezeichnen kann. Und man erkennt das Gesicht bei Männern, die wochen- und monatelang dem so ersehnten Erfolg in Beruf und Anerkennung nachgelaufen sind und irgendwann durch eigene Leistung oder durch das Zusammentreffen von mehreren Komponenten endlich jene Rückmeldung erfahren, die sie für ihr Selbstwertgefühl so dringend brauchen.
    Ello Dox’ Gesicht hatte sich verändert. Er schwitzte und atmete schwer. Die Haare standen ihm im wahrsten Sinne zu Berge. Die Brille, wiewohl die Sonne langsam begann, den See durchsichtiger zu gestalten und die Luft von der nächtlichen Kühle zu befreien, war angelaufen und seine Hände zitterten. Es war, als ob Ello Dox plötzlich Leben in sich trug. So verhärmt, vergrämt, ja geradezu ausgetrocknet er gestern ausgesehen hatte, so erleichtert und von einem geradezu pulsierenden Strom der Lebensfreude durchzogen, blickte er mich heute an. „Gehen wir“, sagte er, „bevor mich andere Gedanken wieder zu quälen beginnen. Ich habe bei Ihnen noch eine Schuld einzulösen.“
    Geradezu hastig, in einer Art kindlicher Freude, lief er mir voraus. Er tänzelte fast über die Brücke, aber aus der Richtung, aus der er gekommen war und in die er gestern Abend, geradezu fluchtartig das Gespräch hinter sich lassend, davongelaufen war. Er hatte sich also – so schien es – entschieden.
    Er war die letzten fünf Meter auf die Südseite der Pont de la Machine nicht mehr gegangen.

achtunddreißig
    Er wollte offenbar seine innere Ruhe wieder zurückerobern. Er hopste voraus und ich hinten drein. Irgendwann, als er sich auf der Höhe des Hôtel de Poste umdrehte und mir zurief, ich möge mich beeilen, sonst würden wir die Abfahrt des Zuges verpassen, erkannte ich, dass er nicht nur seine Meinung in der Nacht geändert, sondern bereits begonnen hatte, die Logistik und Organisation aufzubauen, um die lange Reise dorthin zu unternehmen. Dorthin, wo offensichtlich immer noch unbewacht die Kohlen der Hölle vor sich hinglühten und noch gestern Abend darauf warteten, durch den Sauerstoff der Freiheit und der Öffentlichkeit angefacht, zu einem Flächenbrand zu werden. Ich hatte keine Ahnung, wo er mich hinbrachte. Es ging mir auch alles ein bisschen zu schnell. Am Vorplatz des Bahnhofes angekommen, mahnte er mich nochmals zur Eile, denn der Zug würde bereits in vier Minuten abfahren. Er kannte den Weg, er kannte den Ticketschalter, ja es schien sogar, als ob er das Kleingeld bereits hergerichtet hatte. Schnell und behände hatte er zwei Kurzstreckentickets ausgedruckt und nur wenige Stunden, nachdem ich die gleiche Strecke vom Flughafen in die Stadt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher