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GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE
Autoren: Thomas Müller
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anzubieten, warum bestimmte einzelne Verhaltensweisen, die sehr wohl wahrgenommen werden, in einer Institution falsch interpretiert und schlussendlich wieder negiert werden. Er stellte Warnsignale dar, fertigte kleine Skizzen an, kreierte eine eigene Typologie, vermischte sie, kreuzte seine eigenen Typen und ließ neue Mischformen daraus entstehen. Er versuchte sie mit Beispielen zu belegen und wurde für mich im Laufe dieses Gespräches geradezu zu einem fast unerschöpflichen Fundus von einer praktisch wissenschaftlichen Erkenntnisweise, eines Phänomens, von dem ich überzeugt war, dass es in den nächsten Jahren unausweichlich auf uns zukommen, dem Nebel in einem Hochmoors gleich, sich durch die Ritzen der Eingangstüren der Empfangshallen von den Kellergewölben bis in die obersten Chefetagen schleichend ausbreiten wird.
    Er gab sich jede Mühe, nicht belehrend zu wirken und beantwortete geduldig jede meiner Fragen. Wieder und wieder versuchte er an unzähligen Beispielen den Unterschied zwischen Ursache und Wirkung darzustellen, die Verbindung zwischen auslösenden Reizen und der eigenen Unfähigkeit, entsprechend darauf zu reagieren, aufzuzeigen. Er schloss seine Ausführungen mit einem für mich so nachhaltig in Erinnerung gebliebenen Satz: „Wissen Sie, Herr Müller, wenn während dieser ganzen Zeit nur ein einziger Mensch mich gefragt hätte: ‚Kann ich irgendwie helfen?‘, wäre so vieles nicht passiert.“ Es war fast ähnlich wie mit meinen Gesprächen in den Hochsicherheitsgefängnissen, die ich in der Regel fünf bis zehn Jahre nach der letztinstanzlichen Verurteilung führte, um ja nicht bei den Insassen den geringsten Zweifel aufkommen zu lassen, dass sie durch eine entsprechende Kooperation sich irgendeinen Vorteil erhoffen könnten. Auch Ello Dox wusste, dass ich ihm nichts geben kann und auch nichts geben werde, denn er hatte nun einmal selbst die Entscheidung getroffen, die Sache zu Ende zu bringen. Lediglich als vor uns das riesige Justizgebäude in Form eines griechischen Tempels auftauchte, bat er mich noch einmal, ein einziges Mal, um den Block herumzufahren.
    Als ob er seine eigene Entscheidung unterstreichen wollte, zwängte er seinen riesigen, von den zahllosen Zigaretten schon ausgemergelten Körper aus dem Auto und bat mich, ein wenig zu warten. Langsam aber zielsicher betrat er einen kleinen Friseurladen und als ich, wieder und wieder nachdenklich um den Block kreisend, beim kleinen Geschäft vorbeifuhr, hätte ich ihn fast übersehen.
    Wenn er seinen Körper in eine orangefarbene Soutane gesteckt, die Hände in eine betende Stellung gebracht und so an einer Hausecke verharrt hätte, hätte ich ihn wahrscheinlich für einen tibetanischen Mönch halten können, der unter Entbehrung aller körperlichen Genüsse versucht, seine geistige Askese unter das Volk zu bringen. Mit einer wahnwitzigen Stoppelfrisur hielt er freudestrahlend das Auto auf, öffnete die Tür und schwang sich auf den Beifahrersitz. War es ein Anflug von schwarzem Humor, eigenem Zynismus oder seine ganz persönliche Form, mit der von ihm antizipierten Realität umzugehen, indem er lapidar vermerkte: „Wer weiß, wie lange ich sitze, so ist es besser, dass ich mich jetzt schon darauf einrichte, zumindest hinsichtlich meiner Haartracht“? Dabei kratzte er sich vorsichtig am Kopf und rückte sich anschließend seine Brille, die nunmehr noch größer erschien, auf seiner Nase zurecht.

einundvierzig
    Ello Dox hatte etwas an sich genommen, was nicht ihm gehörte. Er hatte ein Verbrechen begangen. Er hatte versucht, andere Menschen zu nötigen, etwas zu tun, was sie ohne seine Handlung nicht tun würden, und was jetzt folgte, war die rechtliche Aufarbeitung all seiner Entscheidungen. Es war nicht meine Aufgabe, ihn zu verurteilen. Ich hatte lediglich sein Verhalten beurteilt und beide hatten wir das „Quid pro quo“ eingehalten. Mein Auftrag war somit erledigt und als er etwas nervös – ich hatte fast das Gefühl freudig erregt – aus dem Auto sprang, hielt ich ihn noch einmal kurz zurück, blickte ihn an und meinte: „Ich möchte Ihnen noch etwas mitgeben, Herr Dox. Egal, was in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten passiert. Irgendwann werden Sie wieder ein freier Mann sein. Ich meine nicht rechtlich, ich meine psychologisch, dass Sie sich auch innerlich frei bewegen können. Frei von jeglichen Zwängen, von Rache und Hass, frei in Ihren eigenen persönlichen Entscheidungen. Aber es kann Ihnen niemand
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