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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels
Autoren: Anika Lüders
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I
    Ich war noch klein, als er sich zum ersten Mal bemerkbar machte. Der Vogel, der ein untrennbarer Teil meines Lebens werden sollte.
    Er breitete die Flügel aus, sang und erfüllte meine ganze Brust. Ich dachte, dass das so sein müsse, ahnte nichts. Warum fing er an, sich in meinen Hals zu zwängen? Zu versuchen, mich zu ersticken. Mir nachts den Schlaf zu rauben. Sich auf mich zu legen und zu zerquetschen. Die Realität und mich durcheinanderzubringen. Ich fand keine Antwort, doch die Frühlingstage waren sonnig, und der Vogel flog ohne Unterlass.
    Die Sonne steht hoch am Himmel. Ich bin allein und träume vor mich hin. Plötzlich so etwas wie ein Brummen. Zuerst ist es dumpf, dann aber wird es deutlicher und schlüpft schließlich in die Traumwelt hinein. Drängt mich, drängelt sich ins Paradies. Eine Schmeißfliege, groß wie ein Koloss.
    Ich springe auf die Beine, voller Entsetzen. Bösartige Rhabarberstängel sind mir im Weg, als ich fliehen will und die Fliege hinter mir her ist. Nicht nur eine, sondern viele. Eine ganze Geschwisterschar mit grünen und blauen Flügeln, die im Sonnenschein schimmern. Lasse einen durchdringenden Schrei los: «Papa! Papa!»
    Ich spüre starke Arme um mich. Ich werde hochgehoben,eine Runde durch die Luft gewirbelt, und dann streift der rote Bart meine Wange, weich und warm.
    «Mein kleiner Engel, was machst du im Gemüsegarten?»
    Ich schmiege mich an ihn, spüre seine warmen Hände um mich. Besiege die Angst.
    Wir sitzen im Gesellschaftszimmer, das zum Zerbersten voll mit Gästen ist, und Papa spielt Akkordeon. Ich lausche dem bezaubernden Lied und schaue durch die kleinen Fensterscheiben hinaus auf den Hof. Kann noch nicht zählen, weiß heute aber, dass es neun Fensterscheiben waren. Sie sehen wunderschön aus, wenn das gedämpfte Abendlicht hindurchscheint. Weiß, dass ich später viele solcher Fenster in meinem Gesellschaftszimmer haben möchte.
    «Komm her, Engelchen, und begrüß die Gäste!», ruft Papa und hört einen Moment auf zu spielen. Mit tiefroten Wangen mache ich mich auf den Weg durch das endlos lange Zimmer. Dann bricht die Erinnerung ab.
    Meist bin ich bei Mutter, Großmutter und meinen Schwestern Ninna, Gauja und Gunnhildur, möchte aber bei Papa sein. Er füllt den Hof bis in den letzten Winkel, sein Lachen, seine Anweisungen und die warmen Hände. Manchmal wünsche ich, dass er den Hof nie verlässt. Dass er immer bei mir daheim ist. Nur bei mir. Aber er ist Gemeindevorsteher und viel in der Gegend unterwegs. Viele Unbekannte kommen zu Besuch, um mit ihm zu sprechen und ihn um Rat zu fragen.
    Er ist auch Homöopath und hat eine Tasche voller Medikamente. Diese Tasche nimmt er immer mit. Darin sind Tropfen in verschiedenen Fläschchen, manche grün, andere braun, einzelne auch durchsichtig. Niemand darf die Tasche berühren,aber ich darf zusehen, wenn er mit den Fläschchen hantiert. Er heilt Menschen und auch Tiere und wird oft auf Höfe gerufen. Es kommen auch Leute, die Tage oder ganze Wochen hierbleiben, Salben oder Tropfen bekommen und dafür auf dem Hof helfen. Einige der Gäste erzählen Geschichten, die wir nie zuvor gehört haben. Andere tragen Balladen vor.
    Der Hof hat viele Giebel. Ganz im Osten ist der Lagerraum, im Westen die Werkstatt, vor beiden habe ich Angst. Im Lagerraum ist etwas, von dem ich nicht weiß, was es ist. Spähe durch die Tür, als Papa ein Seil holt. Ich soll ihm das schreckliche Etwas zeigen, kann es aber nicht. Auch mit meinem Bruder Ingi gehe ich nicht hinein, obwohl er anbietet, mich zu beschützen.
    Im Sommer wird der Lagerraum zu einem Schlafraum für Mahdhelfer. Ingi zieht zu ihnen und sagt, dass es dort viel lustiger sei und es mehr Platz gebe als in der Stube. Im fensterlosen Lagerraum ist Erdboden. Dort werden Geschichten erzählt, und bis in den Abend hinein ist Gelächter zu hören. Trotzdem schaudert es mich beim Gedanken an diesen Ort.
    Auch die Werkstatt betrete ich nie. Dort hat sich ein Mann erhängt, und ich weiß, dass er dort herumgeistert, selbst wenn Mutter sagt, dass er das nicht tut. Sobald die Dämmerung einsetzt, renne ich blitzschnell an der Werkstatttür vorbei und lasse mich nicht dazu verleiten, einen Blick durch die Tür zu werfen.
    Die alte Kristbjörg hat den Mann gesehen, und sie sagt, dass ihm die Zunge aus dem Mund gehangen habe. Sie sagt auch, dass er ein verfluchter Dummkopf gewesen sei, der den Höllenfürsten zum Lachen gebracht habe, und dass er auf direktemWeg beim Gehörnten
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