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Gier

Gier

Titel: Gier
Autoren: Arne Dahl
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würde, wusste sie, dass sie spätestens um neunzehn Uhr das Haus hätte verlassen haben müssen. Aber sie wusste nicht, aus welchem Grund. Es hatte irgendetwas mit dem Alarm zu tun. Mit der Alarmanlage des Hauses. Sie brauchte an nichts weiter zu denken, so hatte man ihr eingeschärft, an nichts, außer an die Alarmanlage und daran, dass sie die Haustür um spätestens 19:00 Uhr von außen zuschloss. Bis dahin sollte sie alles geputzt haben.
    Der ersten Vernehmungsleiterin gegenüber sagte sie aus, sie putze die Villa einmal die Woche, immer donnerstags, und es gäbe dort keine Besonderheiten. Es war eine Villa unter vielen. Die Putzfrau war bisher keinem der Familienmitglieder begegnet, nur als sie sich vorstellte, hatte die Frau des Hauses ihr ausführlich erklärt, was alles zu tun sei. Seither waren donnerstags alle außer Haus. An diesem Tag traf sie ohnehin keinen an, denn die Eheleute waren über das verlängerte Wochenende nach Paris geflogen, und ihr Sohn wollte bei einem Freund übernachten.
    Möglicherweise spielte dieses Wissen eine gewisse Rolle bei den nachfolgenden Ereignissen. Denn sie war etwas entspannter, während sie putzte. Summte ein altes Volkslied aus ihrem Heimatdorf Bengbu vor sich hin, aber ohne Erinnerungen aufkommen lassen zu wollen.
    Doch was sie dazu verleitete, sich auf das Sofa im Wohnzimmer zu legen, und weshalb sie obendrein auch noch einschlief, blieb ein Rätsel. Dergleichen hatte sie noch nie zuvor getan. Sie erledigte ihre Putzaufträge immer einwandfrei. Denn sie hatte große Angst, etwas falsch zu machen.
    Wie alle anderen auch.
    Und dennoch passierte es.
    Sie hatte fertig geputzt, das alte Volkslied hallte noch in ihr nach, sie war zufrieden mit ihrer Arbeit – und fühlte sich in einer Art und Weise frei, die sie seit ihrer Kindheit nicht mehr erlebt hatte. Sie setzte sich aufs Sofa und fand sich bald in einer halb liegenden Position wieder, sank tiefer und tiefer in die Polster, die die angenehmsten waren, auf denen sie je gelegen hatte. Das Sofa wiegte sie in den Schlaf.
    Eigenartig aber war, dass sie zwei Minuten vor 19:00 Uhr erwachte. Es dämmerte bereits, und sie brauchte eine ganze Weile, bis sie begriff, wo sie war. In dem Moment sprang die Uhr des luxuriösen DVD-Players auf 18:59 Uhr um. Und erst da fiel es ihr ein.
    Sie sprang förmlich vom Sofa auf, raffte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und rannte in Richtung Haustür. Sie sah die Tür am Ende des unendlich langen Korridors und die kleine Box an der Wand daneben, das Gerät, das sie unter keinen Umständen berühren durfte.
    Sie war schon lange nicht mehr gerannt, und sie war zu langsam.
    Zwei Meter von der Haustür entfernt hörte sie, wie es in dem Gerät an der Wand klickte und das Kästchen einen dumpfen Summton von sich gab, bevor ein kleines blaues Lämpchen an seiner Unterkante aufleuchtete und zu blinken begann.
    Sie stürzte auf die Tür zu, hielt jedoch inne, als ihre Hand bereits wenige Zentimeter über dem Türgriff war. Wie verhext starrte sie auf das Gerät mit dem blinkenden Lämpchen. Es war mit einer kleinen Uhr ausgestattet, auf der eine Zeitangabe zu lesen war. 06:30.
    Das muss die Alarmanlage sein, dachte sie, obwohl es ihr schwerfiel, klar zu denken. Die Alarmanlage war aktiviert. Wenn sie den Türgriff jetzt herunterdrückte, dachte sie weiter und zog sachte ihre Hand zurück, würde der Alarm ausgelöst werden. Die Anlage würde anfangen zu piepen und zu lärmen, die Nachbarn würden angerannt kommen, bewaffnete Securityleute würden auftauchen, und sie würde nicht nur ihren Job verlieren, sondern außerdem im Gefängnis landen, die Polizei würde sie vernehmen, und ihr gesamtes Leben würde in die Brüche gehen.
    Sie atmete aus. Und zog die Hand endgültig zurück. Zwang sich, nachzudenken. Vermutlich bedeuteten die Zahlen 06:30 auf dem Display, dass der Alarm morgens um halb sieben deaktiviert wurde.
    Wenn es ihr gelänge, nicht in einem Anflug von Panik den Türgriff herunterzudrücken und die Tür aufzureißen, blieben ihr zwei Möglichkeiten. Sie könnte entweder ihre Arbeitgeber in Paris anrufen, sie bei ihrem romantischen Wochenendausflug behelligen und damit hinnehmen, dass sie ihren Job verlieren würde, nachdem man sie gehörig ausgeschimpft hätte. Aber immerhin würde sie aus der Villa kommen. Doch sie könnte auch
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