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Der Mondscheingarten

Der Mondscheingarten

Titel: Der Mondscheingarten
Autoren: Corina Bomann
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Prolog

    London 1920
    Verwirrt betrachtete Helen Carter ihr Spiegelbild. Ein langer Riss teilte ihr leichenblasses Gesicht in zwei Hälften, Schminke vermischt mit Tränen zeichnete ein Marmor­muster auf ihre Wangen. Ihre exotisch geschnittenen, bernsteinfarbenen Augen leuchteten seltsam inmitten des dick aufgetragenen schwarzen Lidschattens, der sie wie ein Stummfilmsternchen aussehen ließ.
    Helen hatte sich nie fürs Lichtspieltheater interessiert, ihre Leidenschaft galt allein der Musik. Doch in diesem Augenblick fühlte sie sich, als würde sie in einem dieser Streifen mitspielen. Das, was eben geschehen war, hätte auch aus der Feder eines der Schreiberlinge stammen können, die mit Drehbüchern vor den Türen der Filmstudios herumlungerten in der Hoffnung, einen Produzenten zu treffen.
    Helen lachte bitter, schluchzte dann kurz auf. Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen, die sich schwarz färbten, als sie über ihre Wangen glitten.
    Bis vor wenigen Minuten war alles noch in Ordnung ge­wesen. Als aufstrebende Violinistin stand ihr die gesamte Welt offen. In einer halben Stunde sollte sie auf der Bühne der London Hall Tschaikowsky spielen – sogar King George V. würde mit seiner Gemahlin zugegen sein. Eine Ehre, wie sie einem Musiker nur selten zuteilwurde.
    Helen hatte von jeher Glück gehabt. Mit gerade mal zehn Jahren als Wunderkind bekannt geworden, galt sie heute, knapp zwanzigjährig, als eine der besten Musikerinnen der Welt. In Italien hatten die Zeitungen sie, die gebürtige Engländerin, bereits als Paganinis Enkelin gefeiert. Als ihr Agent ihr diese Schlagzeile zeigte, hatte sie darüber gelächelt. Sollten die Leute glauben, was sie wollten! Sie selbst wusste, wem sie ihren Erfolg zu verdanken hatte. Nur zu gut erinnerte sie sich an das Versprechen, das sie gegeben hatte.
    Doch dann war diese Frau aufgetaucht. Wie ein Schatten war sie ihr drei Tage lang an beinah alle Orte gefolgt. Wann immer Helen durch Londons Straßen gegangen war, geriet sie in ihr Blickfeld. Wann immer ihr Blick beim Üben aus dem Fenster geglitten war, sah sie sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
    Am ersten Tag hatte Helen es noch für Zufall gehalten, doch als sich das Geschehen an den beiden folgenden Tagen wiederholte, hatte sie begonnen, nervös zu werden. Hin und wieder gab es verrückte Bewunderer – auch weibliche –, die alles daransetzten, sie einen Augenblick allein anzutreffen.
    Trevor Black, ihr Agent, hatte nur abgewunken, als sie ihm davon erzählte. »Das ist nur eine alte Frau, eine harmlose Verrückte.«
    »Harmlos? Verrückte sind nie harmlos! Vielleicht hat sie ein Messer in der Tasche«, hatte Helen geantwortet, doch Trevor schien der Überzeugung zu sein, dass die Alte ihr nichts antun würde.
    »Sollte sie dich nach dem Konzert immer noch belästigen, sagen wir der Polizei Bescheid.«
    »Und warum nicht jetzt?«
    »Weil sie uns auslachen würden. Schau sie dir doch an!« Trevor hatte auf das Fenster gedeutet, durch das die Fremde am anderen Ende der Straße zu sehen war. Ihre Gestalt wirkte ein wenig krumm, ihr schwarzes Kleid war altmodisch, und die Züge wirkten irgendwie … asiatisch! Helen wollte kein Grund einfallen, weshalb diese Frau ihr nachschleichen sollte. Für einen Moment fühlte sich Helen an ihre Kindheit erinnert, doch sie schob den Gedanken schnell beiseite.
    Doch mittlerweile wusste sie, dass die Fremde sie tatsächlich beobachtet und auf eine Gelegenheit gewartet hatte, Helen allein zu sprechen. Irgendwie hatte sie es fertiggebracht, in ihre Garderobe vorzudringen, kurz nachdem Rosie auf Helens Wunsch losgegangen war, um nachzusehen, wie voll der Zuschauerraum war.
    Helen hatte zunächst um Hilfe rufen wollen, doch die Frau hatte etwas geradezu Hypnotisches an sich gehabt, das es ihr unmöglich machte, zu schreien. Was ihr die Besucherin in dem kurzen Gespräch mitgeteilt hatte, war so ungeheuerlich und erschütternd gewesen, dass etwas in ihrem Innern gesprungen war. Wütend hatte Helen den ersten Gegenstand, der sich ihr bot, nach der Frau geworfen, sie aber verfehlt und den Garderobenspiegel getroffen.
    Erschrocken hatte die Alte das Weite gesucht, aber ihre Behauptung hing immer noch im Raum. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass sie log, doch etwas sagte Helen, dass das nicht zutraf. Alles passte zueinander. Längst vergessene Bilder, Erinnerungen an gesprochene Worte, Gedanken, alles ergab plötzlich einen Sinn.
    Helen blickte auf die Violine neben sich.
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