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Gier

Gier

Titel: Gier
Autoren: Arne Dahl
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gehalten.
    Sein Beobachterblick bleibt an einem anderen Punkt hängen. Er sieht, wie sich ein asiatisch aussehender Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite unter der Absperrung hindurchschiebt und losrennt.
    Auf ihn zu.
    Er hat seinen Blick fest auf Arto Söderstedts Augen gerichtet. Zweifellos ist er auf dem Weg zu ihm. Beinahe hat er ihn erreicht, ist nur noch ein paar Meter entfernt, als der Beobachter plötzlich begreift, dass er kein anonymer Beobachter mehr ist. Ein unerwarteter Schrecken erfasst ihn, ein kurzer Augenblick des Entsetzens, den er später ein ums andere Mal analysieren wird, eine Furcht vor dem Fremden, vor Selbstmordattentätern, vor Asiaten, eine Furcht, die seiner Person nicht angemessen ist.
    Aber das Gefühl hält nur einen sehr flüchtigen Moment an.
    Dann hört er ein Geräusch. Ein Motorengeräusch. Doch die nachfolgenden Ereignisse sind für ihn alle tonlos. Als das grafitgraue Auto dem Chinesen die Beine bricht, dringt kein Geräusch in sein Bewusstsein. Auch der nachfolgende fast senkrechte Flug durch die Luft ist lautlos. Nicht einmal, als der Körper hart, knochenhart auf dem Asphalt aufschlägt, hört Arto Söderstedt einen einzigen Laut.
    Dann kommen alle Geräusche auf einmal. Als wären sie komprimiert worden und würden nun in einem einzigen Augenblick alle gleichzeitig herausgepresst werden. Das Quietschen der Bremsen, der Knall der Kollision, der Aufprall des Körpers auf dem Asphalt, die entsetzten Schreie der Aktivisten und sogar die unkontrollierten Ausrufe des Fahrers hinter der Scheibe des grafitgrauen Wagens. Söderstedt identifiziert den Wagen als Zivilstreife, während er dem Bereitschaftspolizisten seine Papiere aus der Hand reißt und unerwartet geschmeidig im Schersprung die Absperrung überwindet. Er geht neben dem stark blutenden Chinesen in die Hocke, traut sich jedoch nicht, ihn zu berühren. Der Mann lebt. Er sieht Arto Söderstedt wieder geradewegs in die Augen. Als wäre der ein Auserwählter.
    Söderstedt hebt den Blick und lässt ihn über die Szenerie schweifen. Zu seiner Linken sieht er, wie zwei Männer in feinen Anzügen zögerlich aus dem grafitgrauen Wagen steigen. Rechts von ihm hat auf der anderen Straßenseite in einiger Entfernung ein weiteres Auto angehalten, um das herum ein gewisser Tumult entstanden ist.
    Aber vor allem blickt er auf die Menschenmenge, die Friedenseiferer von »Stop the War Coalition«, er sieht den Schrecken in ihren Augen, und ihm wird klar, wie ähnlich sie einander alle sind, wie ähnlich sie reagieren. Die Polizisten der »Operation Glencoe« wie die Demonstranten. Ihre Blicke. Diese stummen geöffneten Münder hinter vorgehaltenen Händen. Er hat keine Ahnung, warum ihm das ausgerechnet jetzt durch den Kopf geht.
    Er beugt sich hinunter zu dem verletzten Mann und sieht in seinem Blick, dass er kurz davor ist zu sterben. Zitternd schaut er einem Menschen genau in dem Moment in die Augen, als der sein Leben aushaucht. Der Mann hält sich gerade noch, mit einem letzten Quäntchen Willenskraft, am Leben. Und der Wille erscheint Arto Söderstedt plötzlich so zielgerichtet.
    Er beugt sich über das Gesicht des Sterbenden. Es ist, als sei dessen ganzer Körper zerbrochen. Wie ein heißer Geysir speien die röchelnden Atemzüge des Mannes Blut in Söderstedts Ohr. Dennoch weicht er nicht zurück. Dieser Mann will ihm etwas mitteilen. Jetzt noch.
    Söderstedt zittert und lauscht. Er schlottert immer stärker und hört, wie eine Anzahl merkwürdiger Silben mit dem Blut hervorsprudeln. Es ist so offensichtlich, dass der Mann etwas sagen will, dass sich hinter den fremden Silben ein gewisser Sinn verbirgt. Söderstedt schaut dem Mann in die Augen, als der stirbt. Er sieht, dass der Chinese in der Gewissheit stirbt, der Auserwählte habe seine Worte gehört.
    Arto Söderstedts Kinn sinkt auf seine bebende Brust. Er spürt, wie ihm das Blut eines Fremden sachte aus dem Ohr tropft. Als er die Augen schließt, merkt er, wie entsetzlich kalt es ist. Gewiss, der April ist der heftigste Monat, aber nicht deswegen geht ihm ein Schauder durch Mark und Bein.
    Er spürt einen eisigen Februarwind, einen harschen Wind des Verrats, der von dem verlassenen Tal herunterbläst.

Die Putzfrau
Nacka, Stockholm, 2. April
    Wie die Putzfrau einige Stunden später selbst zugeben
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