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Gib mir Menschen

Gib mir Menschen

Titel: Gib mir Menschen
Autoren: Ernst Vlcek
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schön daß wir wieder beisammen sind. Soll ich die anderen rufen? Oder läßt du uns nicht ’rein?«
    Martin Korner verschlägt es die Sprache. Er ist so aufgewühlt und erregt, daß er keinen Ton über die Lippen bringt. Das Herz schlägt ihm zum Halse heraus. Er ist fast zu Tränen gerührt. Mit weichen Knien geht er zu Freddy und nimmt ihm behutsam die Kleine ab. Freddy zwinkert ihm vertraulich zu. Martin schluckt. Er trägt Sandra in den Nebenraum und legt sie aufs Bett. Dann legt er die dicke Decke über sie, verpackt sie regelrecht, bis nur noch ihr blaugefrorenes Gesichtchen zu sehen ist.
    »Schlaf, Liebes.« Und er küßt sie zärtlich. »Ich werde immer gut für dich sorgen.«
    Und dann macht er beschwingt kehrt und geht in die warme Stube zurück, von wo ihm das Stimmengewirr einer ausgelassenen Gesellschaft entgegenschlägt.
     
    Die Fiktion der entvölkerten, neu erblühenden Erde entläßt mich. Martin Korner verblaßt, sein verhärmtes, von Verbitterung gezeichnetes Gesicht taucht in der Menge unter. Die drohenden Gestalten haben mich eingekreist, ich bin von einer wogenden, schreienden Masse umzingelt. Ungezählte Menschenleiber stehen dicht an dicht. Alles Protagonisten und Nebenfiguren aus meinem literarischen Schaffen.
    Sie geraten in Bewegung und umtanzen mich in einem Reigen. Es herrscht ein unbeschreibliches Gedränge, Gesichter tauchen auf, verschwinden wieder. Sie schieben und stoßen einander, um mich zu sehen und von mir gesehen zu werden. Es sind lauter gute, alte Bekannte, die mir teilweise in Vergessenheit gerieten, an deren Existenz ich jedoch nachhaltig erinnert werde.
    Der Reigen wird immer schneller, die Gestalten lösen einander bald so schnell ab, daß ich kaum mehr Einzelheiten an ihnen erkennen kann. Ich stelle jedoch fest, daß sie alle schwer zu tragen haben, aber wie unterschiedlich ihre Lasten auch sind, so stellt jede von ihnen ein arges Handikap dar. Manche von ihnen schleppen, wie Atlas in der Mythologie, ihre eigenen Welten mit sich herum.
    Da bricht eine Gestalt aus dem Kreis aus. Bevor es mir noch möglich ist, sie zu identifizieren, breitet sie die Hände vor mir aus, und ein Furioso von Licht und Farben ergießt sich über mich.
    Ein Schwindel erfaßt mich, der mich erst losläßt, als die Formen und Farben zusammengefunden haben und sich die Konturen einer anderen von mir erschaffenen Phantasiewelt herauskristallisieren. Es ist die Welt …
     

 
DAS MÄDCHEN ZEITLOS
     
    Wenn man von einem Mann sagt, daß drei Frauen in seinem Leben eine Rolle gespielt haben, dann meint man für gewöhnlich seine Mutter, seine Ehefrau und seine Geliebte. Bei mir ist das etwas komplizierter.
    Meine Eltern kamen bei einem Flugzeugunglück ums Leben, als ich fünf war. Ich kam in ein Waisenhaus, wo ich ein Jahr blieb, bis Mora auftauchte und sich an Mutters Statt um mich kümmerte.
    Der Tag, an dem ich sie zum erstenmal sah, ist noch gut in meiner Erinnerung. Meine Heimmutter dagegen hat bei mir keinen tieferen Eindruck hinterlassen; ich weiß nicht mal mehr ihren Namen. Bei ihr ging alles automatisch, ihr Tagesablauf war ebenso programmiert wie die Liebe zu ihren sechs Wahlkindern. Wenn ich heute einem Roboter begegne, dann sehe ich unwillkürlich sie vor mir.
    An diesem denkwürdigen Tag putzte sie mich fein heraus. Ich trug stolz meinen schäbigen Sonntagsstaat, war geschniegelt und geschneuzt, als ich im Direktionszimmer der zierlichen alten Dame vorgeführt wurde. Sie wirkte schon damals so puppenhaft und zerbrechlich auf mich, obwohl ich selbst noch ein Dreikäsehoch war. Ihr Anblick hatte etwas Beruhigendes für mich, und mein Lampenfieber legte sich.
    »Ja, das ist der Junge, unverkennbar!« rief sie bei meinem Anblick aus und schenkte mir ein freundliches Lächeln, mit dem sie mich sofort eroberte. Aber dann sagte sie etwas, das mich etwas bange machte. »Du bist doch Hoby Einmaleins?«
    Befremdende Stille. Der Direktor und meine Heimmutter und ich sahen einander abwechselnd an, mein Herzschlag setzte aus. Sollte alles nur ein Irrtum sein? Und in die Stille hinein erklang das helle Lachen der alten Dame, und sie sagte burschikos wie ein kleines Mädchen:
    »Was bin ich doch zerstreut! Natürlich heißt du nicht Hoby, mein Junge. Du bist Albert, und ich darf dich doch Alby nennen? Ich habe deine Frau Mama sehr gut gekannt.«
    Die Heimmutter erklärte mir, daß Mora eine Jugendfreundin meiner Mutter sei und ihr versprochen hätte, sich um mich zu kümmern, sollte ich ihrer
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