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Gib mir Menschen

Gib mir Menschen

Titel: Gib mir Menschen
Autoren: Ernst Vlcek
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Hilfe bedürfen.
    »Sind Sie sicher, gnädige Frau, daß Sie dieser Verantwortung gewachsen sind?« erkundigte sich der Direktor besorgt.
    Sie war es nicht, das sei vorweggenommen. Trotzdem hatte ich es bei meiner Adoptivmutter gut.
    Wir lebten in einem großen, alten Fachwerkhaus ohne Bedienstete, obwohl Mora, wie ich sie fortan nennen durfte, sich bestimmt ein ganzes Dutzend solcher dienstbaren Geister hätte leisten können.
    »Alby, du mußt lernen, selbständig zu werden«, trichterte sie mir von Anfang an ein. »Weißt du, ich bin viel unterwegs, und selbst wenn ich da bin, werde ich mich nicht viel um dich kümmern können. Es ist ohnehin besser, wenn Kinder sich selbst erziehen. Ich liebe dich wie mein eigenes Kind. Ich habe dich fest in mein Herz geschlossen, aber ich bin nun mal wie ich bin.«
    Ich mochte sie ebenfalls sehr gern, auch als ich dann nach und nach erfuhr, wie sie war. Sie war vor allem sehr wunderlich, aber seltsamerweise habe ich mich vor ihr nie gefürchtet, wenngleich sie mit ihrer abwesenden Art einem leicht das Gruseln hätte beibringen können. Ich lernte schnell, sie in Ruhe zu lassen, wenn sie ihre »Periode« hatte, wie ich es bei mir nannte. Im Heim hatte ich über solche Perioden, die bei Frauen üblich waren, munkeln gehört, nur wußte ich in diesem Alter noch nichts damit anzufangen. Aber ich fand die Bezeichnung, auf Moras Zustände bezogen, sehr treffend. Und wenn ich sagte, daß sie ihre Periode hatte, dann meinte ich, daß sie zerstreut war und wirr sprach – oder überhaupt nicht reagierte und mit dem Geist ganz woanders zu sein schien. Wenn ich das merkte, dann sprach ich sie erst gar nicht an und ging ihr aus dem Weg. Zur Kaffeezeit brachte ich ihr den Kaffee und die Hörnchen aufs Zimmer und stahl mich auf Zehenspitzen wieder davon. Später räumte ich, meist von ihr unbemerkt, auf die gleiche Art wieder ab.
    Manchmal geschah es auch, daß sie aus ihren Gedanken schreckte und mit mir sprach. Aber ich gewann immer den Eindruck, daß sie gar nicht mich meinte. Sie hätte genausogut Selbstgespräche führen oder Geister anrufen können. Sie sprach durch mich hindurch.
    Aber ehrlich, ich hatte nie Angst vor ihr. Es passierte auch, daß ich das Zimmer leer vorfand, wenn ich kam, um abzuräumen. Beim erstenmal bekam ich noch einen Schreck und suchte verzweifelt im ganzen Haus nach ihr. Als sie dann Stunden später wieder auftauchte, ohne mir eine Erklärung für ihr Verschwinden zu geben, und überhaupt so tat, als sei nichts vorgefallen, da fand ich mich damit ab. Bei ihrem nächsten Verschwinden machte ich mir keine Sorgen mehr. Sie ging immer öfter und für immer länger fort, und ich habe sie nie danach gefragt, wo sie gewesen sei.
    Ich war nicht beunruhigt, denn ich wußte, daß sie nichts Unredliches tat und daß sie wieder zurückkommen würde. Während ihrer Abwesenheit führte ich den Haushalt allein. Mora hatte es so arrangiert, daß uns alles Lebensnotwendige frei Haus geliefert wurde und ich keine Besorgungen zu machen brauchte, wenn sie nicht da war. Ich kam kaum aus dem Haus und hatte keine Freunde in der Nachbarschaft; es machte mir nichts aus.
    Fast jedesmal brachte mir Mora von ihren Reisen irgendwelche Geschenke mit, die alle auf ihre Art etwas Besonderes waren. Mal handelte es sich um einen »sprechenden Würfel«, und ich kann heute beim besten Willen nicht mehr sagen, wie er funktionierte, sondern weiß nur noch, daß der Würfel auf einfache Fragen komplizierte und geschraubt klingende Antworten gab und daß er auch als Diktiergerät zu gebrauchen war. Ein andermal überreichte sie mir einen grob und ungeschickt behauenen Stein und tat, als handle es sich um weiß Gott was für eine Kostbarkeit. Dabei war es bloß ein Faustkeil, aber ich bewahrte ihn als Andenken an sie auf, und ich besitze ihn heute noch.
    Ich ging zur Schule, wie andere Jungen auch. Als es für mich jedoch Zeit wurde, die Oberschule zu besuchen, da weigerte Mora sich, mich in ein Internat zu geben, denn in unserem Ort gab es keine höhere Schule, und ich hätte in eine in der Stadt gehen und auch dort wohnen müssen. Mora beschloß, mich von einem Hauslehrer unterrichten zu lassen. Sie nannte mir auch den Grund, sagte, daß sie mich, so wenig sie sich auch um mich kümmern könne, immer in meiner Nähe bleiben wolle. Ich glaube, sie hatte Todesahnungen.
    Mein Hauslehrer war ein ganz komischer Typ, er machte auf mich den Eindruck einer verkrachten Existenz. Aber irgendwie hatte er auch
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