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Gib mir Menschen

Gib mir Menschen

Titel: Gib mir Menschen
Autoren: Ernst Vlcek
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den Augen, die Wahrheit traf mich wie ein Keulenschlag. Aber da war es für eine Umkehr bereits zu spät.
    Ich sah das Motorrad mit wahnwitziger Geschwindigkeit auf mich zukommen. Trotzdem konnte ich erkennen, daß der Fahrer ein mit Nieten beschlagenes Ledergewand anhatte. Durch die getönte Sichtscheibe seines Sturzhelmes sah ich ein brutales, verkniffenes Gesicht. Und ich erkannte Jimmy, den Rocker, dem ich Erika abspenstig gemacht hatte. Das also war seine Rache.
    Sekundenbruchteile später erwischte er mich. Der Aufprall erschütterte mich, verursachte mir aber keine Schmerzen. Ich wurde hochgehoben und fortgeschleudert, ich nahm meinen Flug bei vollem Bewußtsein wahr. Ich konnte klar denken und hatte reichlich Zeit für eine Reihe von Überlegungen. Nur meinen Körper fühlte ich nicht.
    Wie auf einem Karussell zogen nacheinander die Personen und Dinge an mir vorbei, die ich schon in der Zukunftsvision gesehen hatte. Die Uhr über dem Juweliergeschäft, das Mädchen und der Königspudel, der Mann mit dem Bücherprospekt, der Kubus mit dem P … und Jimmy auf seinem schlingernden Motorrad.
    Aber ich sah auch noch die Folgephase, wenn auch durch einen sich trübenden Schleier: Das im Entsetzen erstarrte Mädchen, den Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet, den Mann, der sich schutzsuchend hinter einem Auto duckte, das Motorrad, das wegrutschte und sich überschlagend in die Blechschlange der Autos verkeilte – und Jimmy, der hinterdrein flog.
    Danach senkte sich die Schwärze über mich, als hätte Dr. Trotta den Bildschirm ausgeschaltet. Aber meine Hoffnung erfüllte sich nicht, daß das Licht anginge und ich mich in meinem Sessel im Fernsehzimmer wiederfand. Die Gefühllosigkeit blieb, ich spürte keinen Körper, konnte nichts sehen. Die Zeit stand still. Ich hatte Zeit zum Nachdenken, konnte tief in mich gehen.
    Das war also mein letzter Gang durch einen Tunnel aus Schwärze ins Jenseits. Aber was bedeutete der Zeitaufschub? Wurde er mir gewährt, damit ich letztlich meine Entscheidung doch noch ändern konnte, oder war das ein ganz normaler Vorgang?
    Wenn mich der Unsterbliche hören konnte, der sich nichts sehnlicher wünschte als den Tod, dann sollte er wissen, daß ich nun gerne bereit wäre, mit ihm zu tauschen. Und selbst wenn das nur so ein Trick war, um mich weich zu kriegen, ich würde diesen Entschluß nicht mehr abändern. Ich war mit allem einverstanden, wenn es mich nur vor dem Ende bewahrte. Ich wollte nicht sterben, sondern leben um jeden Preis.
    Hörst du mich? Ich bin bereit!
    Irgend etwas streifte meinen Geist und erweckte in mir die Assoziation mit einem Stafettenlauf. Ich war einer von drei Läufern, die anderen beiden waren der Unsterbliche und Jimmy. Der Unsterbliche war der erste Staffelläufer, Jimmy und ich erwarteten ihn zum Stabwechsel. Und es war der Moment der Übergabe. Wir griffen beide nach dem Staffelstab, das Holz streifte mich, und es war wie ein mentaler Klaps. Aber es war Jimmy, der den Stab voll zu fassen bekam, ihn an sich riß und damit weiterlief. Ich blieb auf der Strecke, und die Finsternis umfing mich.
    Irgendwann kam ich wieder ans Licht.
    Also war doch ich der Auserwählte?
    »Sie hatten Glück, Herr Hameter. Obwohl es lange nicht so ausgesehen hat, werden Sie am Leben bleiben. Wir bringen Sie durch. Es wird aber noch einige Zeit dauern, bis wir Sie ins Rehabilitationszentrum überstellen können, wo Sie lernen werden, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen …«
    Glück nannte er es, daß ich mein Leben als Krüppel fristen mußte, wo mich die Unsterblichkeit gestreift hatte. Um ein Haar hätte ich das Rennen gemacht. Aber Jimmy war mir zuvorgekommen.
    Später erfuhr ich, daß er noch an der Unfallstelle verschieden war. Aber ich wußte es besser, nämlich daß er Unsterblichkeit erlangt hatte und daß in seinem Körper ein anderer gestorben war.
    Ich fragte mich immer wieder, ob es Jimmys erste Amtshandlung als Allmächtiger gewesen war, seine Rache an mir zu vollziehen, indem er mich an einen Rollstuhl fesselte.
    Dieser Gedanke läßt mich nicht los.
     
    Danach wird sich alles in Wohlgefallen auflösen, der Spuk ist vorbei. Ein für allemal. Die Sonne wird wieder scheinen und ihre Strahlen durch die Schlitze der Jalousien schicken. Ein neuer Tag voll Licht wird das sein, und ich sehe mich zum Schlafzimmer gehen und es öffnen. Der erste Atemzug wird mir das Gefühl geben, neu geboren worden zu sein.
    »Es ist vorbei!« Ich kann befreit aufatmen. »Ich bin
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