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Gib mir Menschen

Gib mir Menschen

Titel: Gib mir Menschen
Autoren: Ernst Vlcek
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etwas von einem Genie an sich.
    In Geschichte und Soziologie war er eine richtige Niete. Er brachte die meisten Daten durcheinander, auch aus jüngster Zeit, was mir besonders auffiel, weil ja jedes Kind weiß, was in der Welt vor sich geht, aber er ließ sich von mir, seinem Schüler, wenigstens berichtigen. Ich glaubte, daß er wie Mora ein Flüchtling aus dem Osten sei, denn sie hatten einen ähnlichen Akzent. Aber er weigerte sich stur, die Existenz des Eisernen Vorhangs anzuerkennen und wollte mir einreden, daß die Großmächte bereits über eine Weltregierung verhandelten.
    Er sah aus wie Nosferatu, oder wenn Sie wollen, wie Klaus Kinsky in der Rolle dieses Vampirs. Er besaß ebenfalls nur zwei Schneidezähne, und ich nannte ihn im stillen deswegen »Bieröffner«, weil ich zu der Meinung gekommen war, daß er zu nichts anderem zu gebrauchen war. Er hieß Hely, seinen Familiennamen erfuhr ich ebensowenig wie den von Mora.
    Ich tat Bieröffner unrecht, ich weiß, denn in Wirklichkeit hatte er einige erstaunliche Fähigkeiten. Zum Beispiel konnte er vorbildlich Science-Fiction-Geschichten erzählen. Er besaß eine überschäumende Phantasie, und wenn man ihm zuhörte, dann meinte man, die Reisen durch die Milchstraße selbst mitzumachen und einer der irdischen Evolutionshelfer zu sein, die den unterentwickelten Extraterrestriern den Fortschritt brachten.
    Ich habe später versucht, diese Geschichten aus dem Gedächtnis niederzuschreiben, dabei jedoch kläglich versagt. Ich hätte sie besser in den Konversationswürfel speichern sollen, um den Zauber der Erzählungen einzufangen. Aber mit dem sprechenden Würfel war das so eine Sache. Als ich Mora nach einiger Zeit einmal fragte, woher sie ihn habe, da geriet sie ganz aus dem Häuschen und zeigte sich erschrocken über ihren »Lapsus«, und sie nahm ihn mir einfach mit der Begründung wieder weg, daß dies kein geeignetes Spielzeug für mich sei. Das wiederholte sich auch mit anderen Geschenken, und allmählich gewöhnte ich mich daran, daß sie mir ausgerechnet die interessantesten Dinge stets wieder abnahm. Ich konnte sie gar nicht so gut verstecken, daß Mora sie nicht gefunden hätte.
    Eines Morgens kam Mora ganz aufgeregt in mein Zimmer und verlangte ein Sprechfunkgerät zurück, das sie mir angeblich gegeben hatte. Das verwirrte mich, denn ich wußte ganz genau, daß sie mir so etwas wie ein Walkie-Talkie nie geschenkt hatte. Mora war daraufhin noch verstörter als ich und entschuldigte sich für ihre Zerstreutheit.
    Am Abend kam sie dann mit dem Funkgerät, das aussah wie eine Armbanduhr. Ich fragte sie, in Erinnerung unseres Morgengesprächs, ob das überhaupt das Richtige für mich wäre. Da wurde sie ganz komisch, und nach einem Blickwechsel mit Hely schien sie dem Weinen nahe. Am nächsten Tag war das Armbandgerät wieder verschwunden, und Mora verlor kein Wort mehr darüber.
    Bieröffner gab mir zu verstehen, daß ich mir über solche Vorfälle nicht den Kopf zu zerbrechen brauchte; Mora sei eben schon recht senil. Er verriet mir, daß er etwa in Moras Alter sei, doch aus bestimmten Gründen eine längere Lebenserwartung habe. Abgesehen davon sei Mora einfach überfordert und trage eine zu große Verantwortung.
    »Du bist nicht ihr einziger Schützling, Alby«, sagte er wörtlich. »Mora ist der Schutzengel für viele Menschen … auch der meine.«
    Mehr wollte er dazu aber nicht sagen.
    Als ich vierzehn war, verschwand Mora wieder einmal, und diesmal hatte ich sofort ein ungutes Gefühl. Tatsächlich blieb sie volle zwei Jahre weg. Als sie dann unvermutet wieder in unserem Haus auftauchte, da wußte ich sofort, daß sie nur gekommen war, um sich zu verabschieden.
    Bieröffner, der mich auch in diesen zwei Jahren betreut hatte, ging grußlos aus dem Zimmer. Ich sah ihn nie wieder.
    Mora wirkte um Jahrzehnte gealtert, aber das mochte darauf zurückzuführen gewesen sein, daß ich sie in meiner Erinnerung jünger gemacht hatte. Kinder neigen dazu, ihnen nahestehende Personen zu idealisieren und ihr wahres Aussehen und Alter einfach nicht wahrzunehmen. Aber jetzt war ich sechzehn und kein Kind mehr. Mora wirkte für mich auf einmal uralt.
    »Alby«, sagte sie zärtlich und hob mein verweintes Gesicht am Kinn hoch, so daß ich sie ansehen mußte. »Alby, du bist jetzt fast erwachsen und wirst deinen Weg allein machen. Du wirst schon das Richtige tun, ich weiß es. Sieh mir in die Augen.«
    Ich tat es. Lange und intensiv und war wie hypnotisiert von ihrem
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