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Gib mir Menschen

Gib mir Menschen

Titel: Gib mir Menschen
Autoren: Ernst Vlcek
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Ausdruck.
    »Ich gehe jetzt, Alby. Aber glaube mir, es ist kein Abschied für immer. Blicke mir ein letztes Mal in die Augen, damit du mich später einmal wirklich wiedererkennst. Auf Wiedersehen.«
    Dann zog sie sich in ihr Zimmer zurück, und als ich es tags darauf wagte, nach ihr zu sehen, war das Zimmer leer. Obwohl sie mit solcher Überzeugung von einem Wiedersehen gesprochen hatte, begegnete ich der alten Dame nie wieder. Sie war die erste Frau, die in meinem Leben eine Rolle gespielt hatte.
     
    Anima machte vom ersten Augenblick den Eindruck eines verschreckten Rehs auf mich. Ich mochte sie auf Anhieb. Und ich hatte sogar das Gefühl, daß es ihr ebenso erging, aber ich fand keinen Weg, mich ihr zu nähern.
    Ich war kontaktarm und introvertiert, was ich bedauerlicherweise Moras Einfluß zuschreiben mußte. Dadurch, daß ich von klein auf für mich selbst hatte sorgen müssen, konnte ich auf meinen eigenen Beinen stehen. Doch die Isolation in dem alten Haus hatte mich zum Einzelgänger gemacht, ich fand einfach keinen Draht zu den Menschen. Meine Kontakte gingen über oberflächliche Bekanntschaften nie hinaus.
    Es war im dritten Semester auf der Kunstakademie, als Anima in meine Klasse kam. Und das war ein Wendepunkt in meinem Leben. Denn ich war nahe daran gewesen, den ganzen Kram hinzuschmeißen und ein anderes Studium zu beginnen, worin mich mein Professor tatkräftig unterstützte, indem er mir jegliches bildnerisches Talent absprach. Aber dann kam Anima und verleitete mich zum Bleiben. Ich entsinne mich noch ganz deutlich meines Zorns über meinen Nebenmann, als er witzelte, daß ihm die Kleine als Aktmodell lieber wäre. Sie war auch recht niedlich anzusehen. Zwar hatte sie keine tolle Figur (ich meine, toll im Sinn von sexy), aber gerade daß sie so jungenhaft und burschikos war, übte einen besonderen Reiz auf mich aus. Wahrscheinlich waren es ihre Augen, die mich dermaßen faszinierten, daß ich mir über ihre übrige Erscheinung kein objektives Urteil bilden konnte. Als sie zur Tür hereinkam, kreuzten sich unsere Blicke, aber sie sah sofort wieder weg. Obwohl sie den Platz direkt vor mir wählte, sahen wir uns danach nicht mehr so an wie beim erstenmal, bis wir uns ineinander verliebten.
    Bestimmt hätte ich nie den ersten Schritt getan, und wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir Seite an Seite das Studium beendet, ohne über oberflächliche Konversation hinauszukommen. Wir redeten nur das Nötigste miteinander, und sie sah mir dabei nie in die Augen.
    Eines Nachmittags fügte es sich, daß wir als letzte im Zeichensaal übrigblieben. Es war nur noch das Modell da, das sich nun hinter dem Paravent ankleidete. Aber es existierte für mich nicht. Ich saß bewegungslos da, starrte nur Animas geschwungene Nackenlinie, die das aufgesteckte Haar freigab, und dachte, jetzt! Da drehte sich Anima langsam um und sah mir tief in die Augen. Sie sagte:
    »Wie lange willst du es denn noch hinauszögern, Toby? Soll ich als alte Jungfer übrigbleiben?«
    Ich nahm sie mit in das alte Haus, und wir machten ein paar Tage blau. Das Fachwerkhaus wurde zu unserer kleinen idyllischen Welt, es war unser Kosmos, den wir ganz für uns allein hatten. Wenn wir uns nicht gerade liebten oder über Kunst diskutierten und uns gegenseitig malten, lebten wir schweigsam nebeneinander, und einer war sich der Gegenwart des anderen mit jeder Faser des Körpers bewußt. Das genügte uns. Anima streifte am liebsten durch das große, stille Haus, besah sich alles ganz genau und wurde dabei von einer ganz eigenartigen melancholischen Stimmung ergriffen. Dabei gewann ich den unbestimmten Eindruck, daß ihr diese Umgebung irgendwie vertraut sei.
    »Erinnert dich dieses Haus an irgend etwas?« fragte ich sie. »Hast du das Gefühl, als seist du schon mal hier gewesen?«
    »Vielleicht komme ich irgendwann einmal wieder hierher«, sagte sie schulterzuckend. »Was ist das für ein Haus?«
    »Ich habe es von einer alten Dame geerbt, die mich nach dem Tod meiner Eltern adoptierte. Außer dieser Bruchbude verdanke ich ihr noch jede Menge Komplexe.«
    »Eine alte Dame, sagst du …« Anima wurde nachdenklich. »Du sprichst von ihr, als sei sie eine Fremde gewesen, aber ich merke trotzdem, daß sie dir etwas bedeutet hat. Wie mir der alte Mann, dessen Bekanntschaft ich es verdanke, daß ich hier und bei dir bin. Der alte Mann und die alte Dame scheinen bestimmend für unser beider Leben zu sein, findest du nicht auch, Andy? Ich sehe es als
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