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Der Krater

Titel: Der Krater
Autoren: Douglas Preston
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1
    April
    J etzt kam es darauf an, durch die Hintertür nach drinnen und mit dem Karton die Treppe hinaufzukommen, und zwar lautlos. Das Haus war zweihundert Jahre alt, und man konnte kaum einen Schritt tun, ohne dass es irgendwo knarrte und quietschte. Abbey Straw zog leise die Tür hinter sich zu und schlich über den Teppich im Flur zum Fuß der Treppe. Sie konnte ihren Vater in der Küche herumwerkeln hören, und im Radio lief leise der Kommentar eines Red-Sox-Spiels.
    Sie drückte den Karton mit beiden Armen an sich, stellte den Fuß auf die erste Stufe, verlagerte langsam das Gewicht darauf, dann auf die nächste, und die nächste. Die vierte Stufe ließ sie aus – die kreischte wie eine alte Hexe – und rückte zur fünften, der sechsten, der siebten vor … Und als sie schon dachte, sie hätte es geschafft, gab die Stufe einen Knall von sich, so laut wie ein Schuss, gefolgt von einem langgezogenen Todesstöhnen.
    Verdammt.
    »Abbey, was ist in der Kiste?«
    Ihr Vater stand in der Küchentür, noch in den orangefarbenen Gummistiefeln, und sein kariertes Hemd war fleckig von Dieselöl und Hummerköder. Seine von Wind und Sonne verbrannte Stirn runzelte sich argwöhnisch.
    »Ein Teleskop.«
    »Ein Teleskop? Was hat es gekostet?«
    »Ich habe es von meinem eigenen Geld gekauft.«
    »Schön«, sagte er, und seine rauhe Stimme klang gereizt, »wenn du das College nie wiedersehen und für den Rest deines Lebens Kellnerin bleiben willst, gib dein ganzes Geld für Teleskope aus.«
    »Vielleicht will ich ja Astronomin werden.«
    »Weißt du, wie viel ich für dein Studium bezahlt habe?«
    Sie wandte sich ab und ging weiter die Treppe hinauf. »Du erwähnst es ja nur fünfmal am Tag.«
    »Wann nimmst du endlich Vernunft an?«
    Sie knallte die Tür zu und blieb einen Moment lang keuchend in ihrem kleinen Zimmer stehen. Mit einem Arm schob sie die Stofftiere von der Tagesdecke und legte den Karton aufs Bett. Dann ließ sie sich daneben fallen. Warum war sie ausgerechnet von weißen Leuten in Maine adoptiert worden, dem weißesten Staat in ganz Amerika, und in einem Ort, wo jeder weiß war? Hatte denn nicht irgendwo ein schwarzer Hedgefonds-Manager ein Adoptivkind gesucht? »Und wo kommst
du
her?«, fragten die Leute immer, als wäre sie erst kürzlich aus Harlem angereist – oder aus Kenia.
    Sie drehte sich auf dem Bett herum und betrachtete den Karton. Dann fischte sie ihr Handy aus der Tasche und wählte. »Jackie?«, flüsterte sie. »Wir treffen uns um neun am Kai. Ich habe eine Überraschung.«
    Eine Viertelstunde später öffnete Abbey, das Teleskop an sich gepresst, die Schlafzimmertür einen Spalt weit und lauschte. Ihr Vater rumorte immer noch in der Küche herum und erledigte den Abwasch, den sie heute Morgen hätte machen sollen. Das Spiel lief noch, und die nervtötende Stimme des Sportreporters Dave Goucher plärrte aus dem billigen Radio. Da sie ihren Vater ein paarmal fluchen hörte, nahm sie an, dass die Sox wohl gegen die Yankees spielten. Gut, das würde ihn ablenken. Sie schlich die Treppe hinunter, trat vorsichtig auf, damit die alten Stufen aus Kiefernholz nicht knarzten, huschte an der offenen Küchentür vorbei und war auch schon aus dem Haus und auf der Straße.
    Sie legte sich das Stativ über die Schulter und sauste am Anchor Inn vorbei zum Kai. Der Hafen war so still wie ein Mühlteich, eine riesige schwarze Wasserfläche, die sich bis zum vagen Umriss von Louds Island hinzog. Die Boote lagen da wie weiße Gespenster. Die Boje, die den Kanal an der Ausfahrt des schmalen Hafens markierte, blinkte vor sich hin. Am Himmel darüber waberte das schwache Licht der natürlichen Phosphoreszenz.
    Sie lief schräg über den Parkplatz, an der Fischereigenossenschaft vorbei und weiter zum Kai. Der starke Geruch von Heringsköder und Tang in der feuchten Nachtluft kam von einem Stapel alter Hummerfallen am Ende des Kais. Die Hummerbude war nur in der Sommersaison geöffnet, und ihre Picknicktische waren noch aufgestapelt und am Geländer festgekettet. Hinter sich auf dem Hügel konnte sie die Lichter des Ortes sehen und den Kirchturm der Methodisten-Kirche, eine schwarze Nadel vor der Milchstraße.
    »Hi.« Jackie trat aus dem Schatten, und die glimmende Spitze ihres Joints hüpfte in der Dunkelheit. »Was ist das?«
    »Ein Teleskop.« Abbey nahm den Joint entgegen und tat einen kräftigen Zug, begleitet vom Knistern brennenden Tabaks. Sie atmete aus und gab ihn zurück.
    »Ein Teleskop?«, wiederholte
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