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Dornröschengift

Dornröschengift

Titel: Dornröschengift
Autoren: Krystyna Kuhn
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Die Nacht danach
    Nacht vom 29. April zum 30. Apri l
    B ist du jetzt bereit?«, fragte er . »Ja, ich bin bereit, denn in deinen Armen zu sterben, bedeutet , ewig zu leben. « »So sei es. « Lisa nahm den Becher und trank ihn in einem Zug leer . »Das ist der erste Schritt in deine neue Existenz«, erklärte er . »Wirf die alte von dir und überschreite die Grenze. Die Wirk lichkeit ist das, was du dir erschaffst, und nicht die Welt der an deren, die keine Träume kennen. Deine Reise beginnt in die sem Augenblick. « Fast hätte Lisa bei diesen Worten zu kichern begonnen, den n war nicht alles im Grunde nur ein lächerliches Spiel? Fantaste reien? Sie erinnerte sich wieder an das erste Gebot: »Vertrau e deiner Fantasie, misstraue dem Verstand. « »Jetzt erhebe dich!«, befahl er . Sie folgte ihm unsicher, es tat weh, mit den bloßen Sohlen au f dem steinigen Boden aufzutreten. Andererseits gefiel ihr, wi e der Stoff des Kleides ihre Beine umschloss, wie er im Win d wehte . »Wohin gehen wir?«, fragte sie zögernd . »Vertraue mir. « Ja, sie wollte ihm vertrauen. Unbedingt !
    Ach, er lächelte so wunderschön. Wie alles an ihm einfac h schön war – die blauen Augen, seine gebräunte Haut, die For m seiner Hände – und nicht zuletzt, wie er sich bewegte, wie e r sprach . Wenn sie nur nicht so müde gewesen wäre. Dies hier war di e Nacht, nach der sie sich schon so lange gesehnt hatte, und si e war so erschöpft. Ihre Füße waren eiskalt, ihre Haare feuch t vom Nebel . Sie stolperte. Warum gehorchten ihr die Beine nicht mehr , klopften ihr Kopf so heftig und ihr Herz – als hielte sie es in ih rer eigenen Hand, so deutlich fühlte sie es pochen ? »Ich kann nicht mehr«, stöhnte sie. Sie blieb stehen, hatte da s Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen . »Die Prüfung ist noch nicht zu Ende«, erklang seine Stimm e weit entfernt . Sie hörte den Wind mehr, als sie ihn spürte. Er strich sanft übe r die Wipfel der kahlen Bäume, während er unbarmherzig auf heulte . Die Prüfung, dachte sie zitternd. Ja. Aber später. Jetzt friere ich , mir ist übel . »Ich will nach Hause«, jammerte sie . »Es gibt kein Zurück! « Seine Stimme klang nun ganz anders: ungeduldig und gereizt . Angst kroch in ihr hoch . Hatte Frau Mader ihnen nicht immer wieder Vorträge gehalten , nichts zu tun, rein gar nichts, was sie nicht selbst wollten ? Aber sie wollte es ja .
    Sie erwachte ohne Bewusstsein dessen, was passiert war . Wie viel Zeit war verstrichen ? Stunden, Jahre, Sekunden ? Oh, wie müde sie sich fühlte .
    Schrecklich müde . Blei in den Armen . Blei in den Beinen . Sie erinnerte sich nur noch, dass sie gefallen war . Ein Bild schob sich vor ihre Wahrnehmung, es war sie selbst, si e stolperte in dem engen Kleid durch das Gestrüpp. Ja. Ihr wa r kalt gewesen, so kalt, die nackten Arme und bloßen Füße wi e von einer feinen Eisschicht überzogen . Aber jetzt war das Zittern verschwunden. Ihr Körper fühlte sic h geradezu weich an. Wie aus Watte und ihr Kopf – er schwebt e in der Luft. Sie konnte sehen, wie ein kräftiger Windstoß ih n nach oben trieb und er leicht über die Bäume davonsegelte . Ein riesiger gelber Luftballon in der Dunkelheit . Sie lachte . So ein Unsinn ! Es war ja nur der Vollmond, der dort oben durch den Nebe l schien . »Was ist nur los mit mir?«, fragte sie laut und bemerkte zu ih rem Schrecken, dass ihre Zunge wie Kaugummi im Mund kleb te. Jedes einzelne Wort eine unsichtbare Kaugummiblase, di e noch auf den Lippen zerplatzte . Im Nebel konnte sie nichts erkennen, ahnte mehr die Baumkro nen über ihr, das Moos unter ihr. Die Bäume wie Fahnenstangen , die kahlen Äste lange gekrümmte Finger, die nach ihr griffen . Der ganze Wald war tot . Ihre Hände krallten sich ins feuchte Laub. Zweige streiften ih r Gesicht, als sie den Kopf mühsam hob . Sie stöhnte laut auf . Es hieß, hier lebten Waldgeister und Kobolde. Ja, sie konnte si e sehen. Die Schatten der dunklen Gestalten, die sich im Nebe l verbargen, beugten sich über sie. Sie flüsterten miteinander , das Gesicht hinter starren Masken verborgen .
    Jemand weinte ganz schrecklich laut . Warum?, fragte sie sich . Und dann wunderte sie sich, warum sie denken konnte, wen n doch ihr Kopf dort oben am dunklen Himmel hing .

Der Tag zuvor
    Nachmittag 29. Apri l
    I m Nachhinein schien es mir, als habe sich der Nebel an dem Tag über die Landschaft gelegt, als wir die Nachricht erhielten. Mike, mein Bruder, war zu einem Tauchgang
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