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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Udo Reiter
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Flirten war ich sicher auch nicht. So etwas lernte man nicht in Rickenbach. Erst unsere dienstlichen Kontakte brachten mich dann weiter. Sie war zwar anfangs etwas schnippisch, aber dann schaffte ich doch den Theaterbesuch inklusive Händchenhalten. Es war Schillers »Braut von Messina«. Ich schildere das so ausführlich, weil ich das Mädchen, sie hieß Ursula Weyermann und war die Tochter des Lindauer Sparkassendirektors, zehn Jahre später geheiratet habe. Fünfzig Jahre später hielt ich ihr zum letzten Mal die Hand.
    Im Winter ging die ganze Klasse – wir waren nur sechzehn Schüler – eine Woche auf eine Skihütte, meist nach Österreich, auf die Grabs oder nach Lech am Arlberg. Wir haben uns jedes Jahr darauf gefreut. Tagsüber Aufstiege und Abfahrten, abends Gesänge von der Sorte »Wir lagen vor Madagaskar« oder »Wildgänse rauschen durch die Nacht«. Das stärkte den Zusammenhalt ungemein und brachte auch in die Beziehung zu den Lehrern eine menschliche Nähe, die dem Schulalltag zugutekam. Dasselbe galt fürs Theaterspielen. Es war Tradition am Lindauer Gymnasium, dass nahezu jedes Jahr ein Stück aufgeführt wurde. Entweder als Koproduktion der ganzen Schule oder einer einzelnen Klasse. Die Aufführungen fanden im Foyer der Schule und gelegentlich sogar im Lindauer Stadttheater statt. Meine Paraderolle war der Tranio in Plautus »Mostellaria«. Ich musste in dieser Rolle sogar singen. Alfred Kuppelmayer, der mich am Klavier begleitete,sagte hinterher, er habe den Quintenzirkel auf und ab bemühen müssen, um wenigstens einigermaßen mit mir mithalten zu können. Die Besucher meinten, ich sänge mit Absicht so falsch, weil das zur Rolle gehöre. Nur die Musiklehrerin des Mädchengymnasiums sagte, so falsch könne man absichtlich gar nicht singen. Eine Kritik aus der Lindauer Zeitung habe ich bis heute aufgehoben. »Ein Glanzstück«, schrieb der wohlwollende Rezensent, »lieferte der Darsteller des Sklaven Tranio, der Gymnasiast Udo Reiter, ein drahtiger junger Bursche, dem die Begabung zum Schauspielern offensichtlich angeboren ist.« Das Zwiespältige dieses Urteils ist mir damals nicht aufgegangen.
    Auch der Hang, durch ein extravagantes Outfit seine geistige Überlegenheit zu zeigen, der später bei den Achtundsechzigern zu einer genau definierten Anti-Mode führte, hat sich bei mir damals schon angedeutet. Mein Vater trug zum wöchentlichen Ausmisten seines Hühnerstalls immer eine abgeschabte, ehemals wohl grüne Veloursjacke. Zum Entsetzen meiner Eltern habe ich irgendwann beschlossen, diese schmutzige und leicht nach Hühnerdreck riechende Jacke in die Schule anzuziehen. Vermutlich wollte ich damit einen existentialistischen Akzent setzen und zeigen, wie unwichtig mir Äußerlichkeiten inzwischen geworden waren.

Hinten weit in der Türkei
    Unsere Schule war Mitglied in einer französischen Stiftung, deren Mentor, ein Monsieur Jean Walter aus Paris, es sich zum Ziel gesetzt hatte, Schüler dadurch zur Selbständigkeit zu erziehen, dass man sie auf Reisen schickte. Jugendfahrten waren damals noch nicht in Mode, und um seine Stiftungsreisen pädagogisch besonders wertvoll zu machen, hatte sich Monsieur Walter einige spezielle Schwierigkeiten ausgedacht. Die Reise musste ins Ausland gehen, man musste allein fahren, mit einem begrenzten Etat von 250 DM auskommen und sich ein bestimmtes Thema aussuchen, das unterwegs zu bearbeiten war. Dieses Thema musste vorher eingereicht und von der Stiftung genehmigt werden. Nach der Reise musste darüber ein Abschlussbericht vorgelegt und in der Schule ein Referat gehalten werden. Als »Gegenleistung« spendierte die Stiftung die 250 Mark und gab den reisenden Schülern ein Empfehlungsschreiben mit auf den Weg, in dem der hohe »physische, moralische und intellektuelle Wert« des Unternehmens dargestellt wurde. Das Schreiben endete mit dem Satz: »Il se prépare à son existence d’homme.« Passend zu diesem hohen Ton war mein Thema. Nicht weniger als die »Überreste der griechischen Kultur an der Westküste Kleinasiens« wollte ich in fünf Wochen Sommerferien erforschen. Das Unternehmen war mutig und kam vor allem meinem Vater nicht geheuer vor. Ich war noch nie nennenswert weit von Lindau weggekommen und jetzt als Achtzehnjähriger gleich allein zu den Muselmanen? Eine Türkeireise war 1962 noch keine alltägliche Tour. Mein Vater hat aber Haltung gezeigt und mir sogar sein Motorrad zur Verfügung gestellt. Das fand ich sehr nobel, und auch gegen seine
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