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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Udo Reiter
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deren Hausfrauenleben ich herabsetzte. Auch an den Lehrern. Ich erinnere mich, wie mich unser Lateinlehrer Johannes Finkhous, ein strenger, etwas karger und tugendhafter Mann, ratlos ansah, als ich in einer Lateinstunde das Ende der abendländischen Werte ausrief und als Unterrichtsziel den Übermenschen forderte. Er hat mir dann nach der Stunde freundlichzu erklären versucht, dass man mit solch pathetisch verkleideter Unmenschlichkeit Schlimmes anrichten könne. Ich hielt ihn daraufhin für einen hoffnungslosen Fall, einen typischen »letzten Menschen«. Oder mein Deutschlehrer Gerhardt Lippert. Ihm verdanke ich meine Liebe zur Lyrik. Wie kein Zweiter hat er vermocht, uns die Schönheit eines Gedichts, eines Reims zugänglich zu machen. Als es irgendwann um die Lyrik des Mittelalters ging und er uns voll innerem Feuer vortrug »Vor dem walde in einem tal – tandaradei – schöne sanc die nachtigal«, stellte ich die wichtigtuerische Frage, was uns diese jahrhundertealten Zeilen denn heute angesichts der Probleme des modernen Menschen noch bedeuten könnten. Lippert war tief betroffen. In der nächsten Stunde erklärte er, es sei ihm offenbar nicht gelungen, uns die bleibende Schönheit der Sprache Walthers von der Vogelweide zu vermitteln. Er werde die Beschäftigung mit mittelalterlichen Gedichten sofort beenden. Ich war erschrocken. So hatte ich es doch gar nicht gemeint, aber er ließ sich nicht mehr von seinem Entschluss abbringen. Als wir später die »Iphigenie« behandelten und ihr Verhalten analysieren sollten, habe ich geschrieben: »Sie hatte nicht die Kraft, bewusst schuldig zu werden.« Das klang nicht schlecht, aber als Herr Lippert mich fragte, was ich genau damit meinte, ist mir nicht viel eingefallen.
    Andere in unserer Klasse hatten auch Probleme mit der Weltliteratur. Klaus Form, ein freundlicher, etwas korpulenter Junge, der eine engere Beziehung zu einer Wurstverkäuferin unterhielt, stellte am Ende unserer Beschäftigung mit dem »Faust« die bemerkenswerte Frage, ob »dieser Mephistopheles eigentlich ein Engel oder ein Teufel« sei. Was Herrn Finkhous zu einer sehr emotionalen Antwort verleitete: »Dieser Form«, so rief er aus, »verspürt vor lauter Materie nichts Geistiges mehr!«
    Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: In anderen Fächern war ich weit weniger genialisch. Fremdsprachen gingen gerade so. Mathematik lag mir gar nicht. Ich war froh, dass ich neben meinem Freund Jürgen Müller saß, der zum Glück nicht mit den hundertvierundvierzigtausend Erlösten in den Himmel entrückt worden war und dem Mathematik außerordentlich leichtfiel. Zu leicht wahrscheinlich, denn in den Prüfungen füllte er mit immer röter werdendem Kopf Seite um Seite mit Zahlenkolonnen, während ich schlicht die drei Rechenoperationen ausführte, die er mir am Tag zuvor beigebracht hatte. Bei den Zensuren habe ich ihn dann meistens hinter mir gelassen. Damals zeigte sich schon ein Talent bei mir, auf das ich nicht stolz bin, das mich aber nie im Stich gelassen hat, nämlich mit geringsten Mitteln den größten Effekt zu erreichen. Meine spätere Chefin beim Bayerischen Rundfunk, Frau Dr. Gustava Mösler, von der noch die Rede sein wird, sagte dazu einmal fast ärgerlich: »Es ist schon ungewöhnlich, mit wie wenig Aufwand Sie Ihren Weg gehen.«
    Natürlich haben wir nicht nur gelernt. Es gab, soweit ich mich erinnere, wenig Leistungsdruck. Man absolvierte die Schuljahre, eins nach dem andern. Schlimmstenfalls machte man eine Klasse zweimal, das hat mich aber nie betroffen, bei mir lief es glatt.
    Die Mädchen wurden wieder interessant. Die meisten hatten jetzt die Zöpfe abgeschnitten und trugen Bubiköpfe. Man traf sich am Seehafen, mitunter auch außerhalb der Schulzeit, und deutete hinterher Erlebnisse an, die es nie gegeben hatte. Lindaus Töchter waren wohlerzogen. Mit einer ins Theater zu gehen galt schon als Unternehmen von beträchtlicher erotischer Brisanz. Da ging es dann schon mal bis zum Händchenhalten oder sogar bis zum Küssen auf dem Heimweg. Der Rest blieb Phantasie. Ich hatteals Schulsprecher gelegentlich mit der Schulsprecherin des Mädchengymnasiums zu tun. Dienstlich sozusagen. Sie war sehr hübsch und trug einen wippenden Pferdeschwanz. Auf dem Schulweg war sie mir schon seit längerem aufgefallen, auf dem Fahrrad, später auch im Omnibus, aber ich kam nicht an sie heran. Entweder es waren Freundinnen um sie herum, oder sie schaute in die andere Richtung. Besonders talentiert im
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