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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Udo Reiter
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Vater war einmal im Theater gewesen /Anfang des Jahrhunderts / Wildenbruchs ›Haubenlerche‹ /davon zehrten wir /das war alles.« Mein Vater war nie im Theater gewesen. Er hielt es für unangemessen, seine Kinder ins Gymnasium zu schicken, aber er hat sich der Autorität des Lehrers Eschenlohr schließlich gebeugt. Wäre der nicht nach Rickenbach gefahren, wäre ich vermutlich bei Dornier Werkmeister geworden oder bestenfalls Stammapostel in der Neuapostolischen Kirche. Kleiner Scherz.
    Noch eine andere, etwas ungewöhnliche Spur hat der Lehrer Eschenlohr in meinem Leben hinterlassen, nämlich die sehr genaue Kenntnis des Sternbildes Orion. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie hatte es ihm dieses Sternbild angetan. Er hat es uns ausführlich erklärt, und wir mussten die einzelnen Sterne in ein Schulheft eintragen und mit einer gelben Linie zur Gestalt des Orion verbinden. Noch heute, wenn ich nachts zum Himmel schaue, springt mir sofort der Orion ins Auge, und ich kann genau erklären, wo der Gürtel und wo das Schwert sitzt und welcher Stern der Rigel und welcher der Beteigeuze ist. Dieser Beteigeuze, das weiß ich seither, ist der zehnthellste Stern am Himmel, er hat den 662-fachen Durchmesser der Sonne, gehört zu den Roten Überriesen und wird demnächst als Supernova enden. Bildung made by Lehrer Eschenlohr.
    Das Lindauer Gymnasium, das nun meine neue Schule wurde, befand sich damals noch auf der Insel, direkt neben dem Stadttheater. Der Schulhof grenzte an den sogenannten Segelhafen, wo die reichen Leute ihre Segelboote vertäut hatten. Bis zur berühmten Lindauer Seehafenpromenade mit den Wahrzeichen Löwe und Leuchtturm waren es ein paar hundert Meter, ein ideales Ziel für Freistunden, zumal auch das Mädchengymnasium ganz in der Nähe lag.
    Die Schule hatte einen neusprachlichen Zweig, in den die Mehrzahl der Schüler ging, und einen altsprachlichen, also das klassische humanistische Gymnasium mit Latein undGriechisch, das eher dünn besucht war, aber als etwas Feines und leicht Elitäres galt. Warum ich in diesen altsprachlichen Zweig geriet, konnte mir später niemand erklären. Wahrscheinlich weil mein Vater bei der Anmeldung den Unterschied nicht wusste und man froh um jeden Schüler war, den man den kleinen Griechischklassen zuschieben konnte. Ich hab es aber nie bereut und freue mich heute noch, wenn ich bei passenden oder unpassenden Gelegenheiten den Anfang der Ilias oder der Odyssee ganz beiläufig in Homers Originalsprache aufsagen kann. »Andra moi ennepe Mousa, polytropon, hos mala polla plagchtê epei Troiês hieron ptoliethron epersen …«
    Mit der neuen Schule tat sich eine neue Welt für mich auf. Anfangs hatte ich Komplexe und ständig das Gefühl, eigentlich nicht hierherzugehören. Bei Kafka hab ich später einmal gelesen, er habe in seiner Schule immer die Furcht gehabt, dass der Lehrer auf ihn zukomme und ihn als Betrüger entlarve, der zu Unrecht hier in der Klasse sitze. So ähnlich war mir in den ersten Monaten auch zu Mute. Da saß der Sohn vom Rechtsanwalt Ebert, eine Instanz in Lindau. Oder Apollonia zu Eulenburg, eine Nichte Carl Friedrich und Richard von Weizsäckers. So hieß man nicht in Rickenbach. Oder der Becker Michael, dessen Vater Direktor eines Max-Planck-Instituts war. Nur gut, dass ich damals noch nicht wusste, was das ist. Oder der Siegmann Götz, Sohn eines Notars, der die Damen immer mit einem Handkuss begrüßte. Allerdings war da auch ein Bauernbub, der Wagner Manfred, und der war der Gescheiteste in der Klasse. Er hat mich damals, 1950, mit dem Satz verblüfft, er gedenke die Jahrtausendwende noch persönlich zu erleben. Ich habe ihn später aus den Augen verloren. Hoffentlich hats geklappt. Bei ihm habe ich das erste Mal gemerkt, dass Gescheitsein die Herkunft vergessen machen kann. Die Sozialangst nahm dann auch relativ schnell ab. Man lernte sich kennen, und die persönlichen Eigenschaften und Talente wurden wichtiger als das Elternhaus. Ich war nicht schlecht in diesen ersten Jahren, aber auch nicht so gut, dass ich dadurch unbeliebt geworden wäre. Man wählte mich zum Klassensprecher, später sogar zum Schulsprecher. Es begann eine glückliche Zeit, eine Zeit voller Begegnungen und Erfahrungen, Hoffnungen und Chancen, die mich verändert und geformt hat und für die ich dem Lindauer Gymnasium und seinen Lehrern heute noch dankbar bin.
    Wenn ich sehe, welche Probleme es inzwischen nicht nur in Großstadtschulen gibt, wie Lehrer an desinteressierten und
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