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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Udo Reiter
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aggressiven Schülern verzweifeln und in den vorzeitigen Ruhestand flüchten, wie der Schulalltag bürokratisiert wird und Schulentscheidungen justiziabel gemacht werden müssen, dann muss ich aufpassen, dass ich nicht in die Lieblingspose alter Leute gerate und anfange, die früheren Zeiten zu loben. Golo Mann, über den ich später ein Fernsehporträt gedreht habe, hat einmal gesagt, jede Zeit habe ihre eigenen Schönheiten und ihre eigenen Grausamkeiten. Wenn er recht hat, dann hat zu den Schönheiten einer deutschen Kleinstadt in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts gehört, dass es zwar beschaulich und meinetwegen spießig zuging, dass es aber auch viel Freundlichkeit und Verlässlichkeit gab. Das Miteinander der Leute hat funktioniert, Passanten wurden nicht angegriffen und Schaufensterscheiben nicht eingeschlagen. Das Böse, wenn es denn da war, blieb unter der Oberfläche.
    Auch an unserer Schule. Wir hatten zu den Lehrern – Studienräte oder gar Oberstudienräte hießen sie jetzt – ein gutes, entspanntes Verhältnis. Konflikte
     waren unüblich und wurden vermieden. Die Nazi-Ära und der Krieg lagen noch nicht weit zurück. Man war froh, entkommenzu sein, und wollte jetzt seine
     Ruhe. Über die jüngste Vergangenheit wurde wenig gesprochen. Man hätte sonst ja doch einiges Unangenehme zugeben müssen. So habe ich mehr von meinem
     Großvater über den Ersten Weltkrieg als von meinem Vater über den Nationalsozialismus gehört. Und im Geschichtsunterricht mehr über das Römische als über
     das Dritte Reich. Die These von Hermann Lübbe, dass es historische Katastrophen gebe, die man nur mit Diskretion bewältigen könne, wurde hier
     stillschweigend praktiziert. Später haben die Achtundsechziger-Studenten ihren Vätern dieses Schweigen vorgeworfen. Das war sicher berechtigt, aber auch
     ein wenig wohlfeil. Wer selbst im beginnenden Wohlstand aufgewachsen ist und nie vergleichbaren Versuchungen ausgesetzt war, kann leicht den moralischen
     Richter geben. Nach dem Ende der DDR habe ich dieselbe Problematik mit anderen Vorzeichen nochmals erlebt. Moralisch vermeintlich hochstehende Westjournalisten urteilten verständnislos und hochnäsig über Leute, die in einer Diktatur leben mussten.

»Wenn das stimmt, ist mein Weltbild falsch«
    Gut, wir lernten also viel über die alten Ägypter, die Griechen, die Römer und das Mittelalter. Das war ja auch nicht verkehrt. Dann Literatur. Ich bekam ein erstes Gefühl für die Schönheit von Sprache und Dichtung. »Die Judenbuche« von der Droste gehörte zum Kanon, »Kleider machen Leute« von Gottfried Keller, Schiller und Goethe sowieso, Heine kam dazu, aber auch Brecht, was im Adenauerland nicht ganz selbstverständlich war. Als Kommunist war er für viele brave Bundesbürger, obwohl er aus dem biederen schwäbischen Augsburg stammte, ein Vertreter des Bösen. Schon sein Name führte zu Abwehrreflexen. Ich erinneremich an eine Abiturfeier im Lindauer Stadttheater. Ein gewisser Karl Furmaniak hielt die Abiturrede und griff mit einem Brecht-Zitat (»Macht verdirbt den Charakter«) die angeblich verderbliche hierarchische Stellung der Lehrer gegenüber den Schülern an. Heutige Lehrer würden bei einer solchen Attacke allenfalls gelangweilt abwinken. Damals war es, glückliche Zeiten, ein veritabler Skandal: Ein Teil des Kollegiums verließ empört das Theater. Brecht blieb dennoch auf dem Lehrplan.
    Ich habe gelesen ohne Unterlass. Fernsehen gab es noch nicht, Internet erst recht nicht, also auf die Bücher! Es begann die Zeit, in der man sich als Vierzehn- oder Fünfzehnjähriger in literarischen Vorbildern selbst zu finden sucht. Brechts Baal hatte es mir angetan, so wild und frei und regelbrechend, das wäre ein Leben! Dann kam schon bald Nietzsche. Ich habe aus diesen Tagen eine alte Taschenbuchausgabe des »Zarathustra« gefunden – voller Bleistiftnotizen. »Richtig!«, habe ich am Rand vermerkt oder »Genau!« Auch Tiefschürfenderes: »Wenn das stimmt, ist mein Weltbild falsch!« Natürlich war das pubertär, aber es hat mich damals erregt. Und ich habe gemerkt, dass man mit Gedanken, die ein wenig gegen den Strich gebürstet waren, Aufsehen erregen und auch ein gewisses Ansehen erlangen konnte. Das Image des furchtlosen Denkers hat mir sehr gefallen. Ich hab es in einer Weise an hilflosen Opfern ausprobiert, die mir heute noch peinlich ist. An meinem Vater, dem ich seine Glaubensgewissheiten madig zu machen suchte. Sogar an meiner Mutter,
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