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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Udo Reiter
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Immer im April, wenn wir uns bei den Bozener Filmfestspielen in Südtirol trafen, haben wir zum Abschluss einen Abend mit den Kollegen von der RAI und vom Studio Rom eingeplant. Wir sind dann zur Mali, einer Südtiroler Bergbäuerin, hinaufgefahren und haben bis spät in die Nacht mit ihr gesungen: »Tirol, Tirol, Tirol, du bist mein Heimatland, weit über Berg und Tal das Alphorn schallt«.
    Zu den musikalischen Vergnügungen meines Vaters hat gepasst, dass wir irgendwann Ende der fünfziger Jahre entgegen dem strengen Lustverbot seiner Kirche bei Neckermann ein Radiogerät bestellen durften. Ich erinnere mich noch an den Moment, als es ankam. »Blaupunkt Virginia 2430« – dunkelbraun poliertes Holz, vorn auf hellem Stoffuntergrund ein grün leuchtendes magisches Auge, das die Senderstärke anzeigte. Wir standen am Abend erwartungsvoll um das neue Gerät herum. Der Vater drücktedie UKW-Taste. Es lief – meine erste Begegnung mit dem Bayerischen Rundfunk – »Die weißblaue Drehorgel«, eine damals in Bayern beliebte volkstümliche Sendung mit dem Weiß Ferdl, einem in Bayern weltberühmten Komiker, und dem Roider Jackl, einem ebenso berühmten Gstanzl-Sänger. Gstanzln sind gesungene Mehrzeiler in bayerischer Mundart. Wir waren hingerissen. Mein Vater verwies zwar darauf, dass natürlich nicht jeden Abend so ein schönes Programm kommen würde, aber der Durchbruch war geschafft. Das Radiogerät spielte von da an eine wichtige Rolle in unserem sozialen Leben. Unvergessen die Silvesteransprachen des BR-Programmdirektors Walter von Cube, der am 31. Dezember jeden Jahres kurz vor Mitternacht mit tiefer, tönender Stimme verkündete, dass »wieder ein Jahr im Meer der Vergangenheit versunken« sei. Das einzuschalten gehörte in ganz Bayern zum Jahresend-Ritual. Dass dreißig Jahre später ein Programmdirektor namens Udo Reiter im Bayerischen Rundfunk diese Ansprachen halten würde, lag außerhalb des Vorstellbaren.

»Kein Wunder, dass du ein Monster geworden bist«
    Zu unserer Wohnung im Mühlweg 10 gehörte ein Garten. Dort hat meine Mutter zwischen Johannis- und Stachelbeersträuchern Salat und Gemüse angepflanzt, Bohnen, Rettich, Kartoffeln. Der hintere Teil des Gartens war abgetrennt und diente als Hühnergehege. An die zehn Hennen wurden da gehalten, manchmal (trotz der neuapostolischen Lustfeindlichkeit) auch ein Hahn. Diese Hühnerhaltung hatte im Leben meines Vaters einen hohen Stellenwert. Jeden Abend, wenn er aus der Fabrik heimkam, nahm er ein Stück Brot und ging zu seinen Hennen. Er kannte jede mit ihrem Namen, hielt ihnen Brotkrumen hinund redete mit ihnen. Ich glaube, er hat mit den Hühnern mehr gesprochen als mit seiner Frau. Sie dankten es ihm, indem sie sich auf den Boden duckten, die Flügel ausbreiteten und sich streicheln ließen. Ich weiß nicht, ob dies eine hühnertypische Verhaltensweise ist, außer bei den Hennen meines Vaters habe ich das später nie mehr gesehen. Heute ist mir klar, dass er bei den Hühnern die emotionalen Defizite seines Lebens ausgeglichen hat. Seine Zuwendung war entsprechend. Wenn es im Winter kalt war, wurden im Küchenofen Ziegelsteine heiß gemacht, in Handtücher gewickelt und in den Hühnerstall getragen, damit die Viecher sich die Kämme nicht erfroren. Mein Bruder und ich mussten ohne Ziegelsteine auskommen. Jeden Abend wurde der Stall verschlossen, um einen Fuchsüberfall zu verhindern.
    Die innere Nähe zu seinen Hennen hat meinen Vater von etwas abgehalten, was in der Tierhaltung mitunter auch nötig ist: ein Tier zu schlachten. Meist hat er das einem Nachbarn überlassen, aber einmal, als gerade niemand zur Verfügung stand, hat er tatsächlich mir, dem sieben- oder achtjährigen Buben, das Beil in die Hand gedrückt. Ich hatte schon einige Male zugeschaut und wusste daher, was zu tun war: das Huhn fangen, mit dem Hals auf den Hackstock legen und dann den Kopf abhacken. Beim Nachbarn hatte das immer so einfach ausgesehen, aber es selber tun? Einerseits war es ja eine Auszeichnung, eine solche Erwachsenentätigkeit übertragen zu bekommen, andererseits, das weiß ich heute noch, wurde mir ganz anders, als ich auf das todgeweihte Huhn heruntersah. Ich habe es getan. Ich glaube, mit geschlossenen Augen. Danach flatterte das kopflose Huhn wie wild in meiner linken Hand und verspritzte jede Menge Blut. Als ich die Geschichte Jahrzehnte später meiner Frau erzählte, sagte sie nur: »Kein Wunder, dass du ein Monster geworden bist.«
    Noch so eine Geschichte,
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